Die Selztalbahn - das "Zuckerlottchen"


Autor: Hartmut Geißler
nach Braun

Fotos: Gottfried Braun und Hartmut Geißler


Als die Selztalgemeinden im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts merkten, dass ihre Region durch das Fehlen einer Eisenbahnverbindung an der stürmischen wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung des Rheintales mit seiner Ludwigsbahn nur schwer Anteil haben konnte, wandten sie sich seit den 70er Jahren mit wiederholten Bittschriften an die Regierung in Darmstadt, damit eine Anschlussbahn gebaut würde. Die Regierung brachte schließlich ein Gesetz im hessischen Parlament ein, in dem der Bau und Betrieb von Nebenbahnen, ihre Bezuschussung und Grundstücksfragen geregelt wurden. Im Jahre 1887 wurde erneut eine detaillierte Bittschrift mit vielen statistischen Daten nach Darmstadt gerichtet. Vorsitzender des dazu gegründeten Ausschusses wurde Dr. Martin aus dem damals noch so genannten (Sauer-) Schwabenheim. Nur die beiden Gemeinden Ober- und Nieder-Ingelheim unterstützten diese Bemühungen nicht, weil sie nur die Kosten sahen, die dadurch auf sie zukamen, für sich aber keinen zusätzlichen Nutzen.

Weitere Eingaben folgten, auch an die 1895 gegründete "Süddeutsche Eisenbahngesellschaft" (SEG), den späteren Träger der Selztalbahn, und ein "Selztalbahnkomitee" wurde gegründet, das jährliche Vertreterversammlungen abhielt.

Die am Bau interessierten Gemeinden versprachen sogar eine finanzielle Beteiligung am Ausbau des Frei-Weinheimer Hafens, an dem die Bahn enden sollte, und eine Steuerbefreiung der SEG, bis sie ausreichend Gewinn mache. Das geschah aber nie, so dass die SEG tatsächlich nie Steuern für diese Bahn an die Gemeinden zahlen musste (bzw. konnte).

1901 stimmte das hessische Parlament dem Bau zu und ein Jahr später erteilte endlich die Regierung der SEG die Konzession zum Bau.

1904 schließlich war die Strecke von Frei-Weinheim über Nieder- und Ober-Ingelheim, Großwinternheim, Schwabenheim, Stadecken-Elsheim bis nach Jugenheim und Partenheim (insgesamt 21,46 km) fertig und wurde am 23. Oktober 1904 feierlich und unter großer Anteilnahme der Bevölkerung eröffnet.

 

 

Die beteiligten Gemeinden, die schon das Gelände bereitgestellt hatten, mussten Zufahrtsstraßen und auch zwei größere Brücken für die Trasse bauen: einmal über die Ludwigsbahn in Nieder-Ingelheim und dann im Selztal vor Großwinternheim.

Auf dem Bild überquert ein Zug die Gleise der Ludwigsbahn im Bereich des Bahnhofes Ingelheim (Nord).

 

Beim Eisenbahnbau waren auch die ersten "Gastarbeiter" in unserer Region beteiligt, nämlich Italiener, "die in großer Zahl in Groß-Winternheim im Quartier lagen und dort auch sonntags den katholischen Gottesdienst besuchten. Pfarrer Philipp Koch von Ober-Ingelheim, der damals die Pfarrei Großwinternheim mitbetreute, predigte zuerst in deutscher, dann in italienischer Sprache". (Braun, S. 17/18)

 


In der folgenden Rheinhessen-Karte von Brilmayer aus dem Jahre 1905 ist die Route der Selztalbahn rot markiert, vom Hafen Frei-Weinheim bis zur Endstation zwischen Jugenheim und Partenheim.

 

Anfangs befuhren vier Zugpaare werktags und sechs sonntags die Strecke, der Personen- und Güterverkehr wuchs jedoch bald an.

Befördert wurden abgehend vor allem

- Zuckerrüben - daher der Name "Zuckerlottchen" -,
- Kartoffeln,
- Heu,
- Stroh,
- Lebendvieh und
- Wein

und eingehend

- Dünger,
- Saatgut und
- Kohlen.

Ihre Beförderungsleistung erreichte den Höhepunkt im Jahre 1928 mit 207.606 beförderten Personen und 78.282 Tonnen beförderter Güter, bevor die Weltwirtschaftskrise auch für diese Bahn einen starken Rückgang brachte.

 

 

 

 

 

 

 

 

Früherer Bahnhof "Ingelheim-Süd" in der Selztalstraße Ober-Ingelheim, zu einem Wohnhaus umgebaut; das Haus wurde 2014 abgerissen.

 

 

 

 

Auch in Großwinternheim wurde der Selztalbahnhof zum Wohnhaus umgebaut und die Straße zur Erinnerung an die alte Bahn in "Zuckerlottchenstraße" umbenannt.

 

 

 

 

Bahnhof Schwabenheim 1911

 

Schon im Jahre 1936 stellte Gerda Bernard resignierend fest:

"Wie gering das Verkehrsbedürfnis in dem rein landwirtschaftlichen Selztal ist, zeigt, daß die Selztalbahn mit dem Autoverkehr nicht konkurrieren kann. Ihr Betrieb ist auf täglich einen Zug in jeder Richtung, wobei Personen- und Güterbeförderung gleichzeitig erfolgen, zusammengeschmolzen. Dem Personenverkehr dient im übrigen eine Kraftwagenverbindung." (S. 103)

Den Höchststand von 1928 erreichte die Selztalbahn auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr, trotz des schnellen Wiederaufbaus der zerstörten Brücke über die Ludwigsbahn: 1953, im Jahr vor ihrer Stilllegung, waren es gerade einmal 120.000 Personen - trotz noch geringer privater Motorisierung - bzw. 55.000 Tonnen Frachtgut); der wachsenden Konkurrenz des flexibleren PKW- und LKW-Verkehrs war sie auf die Dauer nicht gewachsen.

Als die 50jährige Konzession 1954 auslief, wurde ihr Betrieb deshalb durch die SEG trotz vieler Proteste eingestellt. Ein weiteres Jahr noch beförderte die Bundesbahn Zuckerrüben, aber dann war Schluss mit dem "Zuckerlottchen". Die Schienen wurden nach und nach entfernt, die Trasse zum schönen Selztal-Radweg umgebaut und die Bahnhöfe verkauft.

Unten links: der Lokschuppen in Frei-Weinheim 1976 vom Deich aus, rechts die ehemalige Gaststätte "Zum Lokschuppen" 2004

 

 

 

 

Nur zwischen dem Ingelheimer Bahnhof bzw. Boehringer und dem Hafen von Frei-Weinheim fuhren noch bis 1976 Gütertransporte ("Hafenbahn"); aber auch dort wurden die Gleise 1996 entfernt.

Übrig blieb vom ganzen Schienennetz des Zuckerlottchens nur der Teil, der von den Gleisen der Deutschen Bahn noch in das Boehringer-Werksgelände führt, nämlich das derzeit nicht benutzte Anschlussgleis zum Ingelheimer Bahnhof.

 

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Gs, erstmals: 09.03.07; Stand: 07.11.21