Sie sind hier:   Merowingerzeit

Der Ingelheimer Raum in der Merowingerzeit (5.-8. Jh.)


Autor: Hartmut Geißler
mit dem Katalog der Frankenausstellung in Mannheim 1996,
Geary, Die Merowinger 1996,
Wenzel, Zwischen Childerich und Karl dem Großen, Ingelheim 1997,
Veröffentlichungen der Forschungsstelle Kaiserpfalz
(wird ständig aktualisiert)


Katastrophe oder allmähliche Entwicklung?

Ereignete sich im 5. Jahrhundert ein katastrophaler Zivilisationsbruch durch den "Zusammenbruch" des römischen Reiches oder fand eine allmähliche Entwicklung statt, die hier in der Zeit vom 4. bis zum 6. Jahrhundert wie an der Mosel zu einer Mischzivilisation zwischen "Romanen" und "Germanen" führte? Muss man also von einer Siedlungskontinuität im Ingelheimer Raum ausgehen oder von einer entvölkerten Gegend, die von "Franken" neu besiedelt wurde (früher: "Landnahme")? Wir wissen über diese Epoche, aus der es fast keine schriftlichen Zeugnisse gibt, zu wenig, um diese Fragen präzise beantworten zu können. Die aktuellen Ingelheimer Ausgrabungen von vielen, durchaus anspruchsvollen Gräbern legen jedoch die Vermutung nahe, dass hier eine kontinuierlich und dicht besiedelte Region lag.
 

Germanen in römischem Militärdienst

Für ganz Nordgallien, zu dem man in römischer Zeit auch Rheinhessen rechnen muss, gilt, dass schon ab dem 3. Jahrhundert Söldner - adlige Kriegsherren mit oder ohne Familie - aus nichtrömischem Gebiet angeworben wurden, die als Entlohnung Land zur Selbstversorgung erhielten, z. B. verlassene Landvillen, möglicherweise auch solche im Ingelheimer Raum. Nach ihrer Dienstzeit kehrten solche "Gast-Soldaten" entweder in ihre Heimat zurück und wurden von ihren Familien stolz mit römischen Militärrequisiten bestattet. Oder sie verstarben in ihren Dienstgebieten; dann findet man in ihren Reihengräbern die typischen Beigaben römischer Germanensöldner.

Diese Männer sind keinem bestimmten "Stamm" zuzuordnen, wie man aus der Fundtopographie römischer Militärbeschläge in Germanien erkennt, sondern sie kamen aus dem gesamten nichtrömischen Germanien und darüber hinaus. Bei der Ausstellung zum Untergang des römischen Reiches 2022 in Trier wurden "Franken" so erklärt:

Als „Franken" bezeichnen römische Schriften ab dem 3. Jahrhundert unterschiedliche Kriegerverbände vom Niederrhein bis zur Nordseeküste. Ihr Name wird mit der Zeit zu einem Begriff für grausames, jedoch tapferes Kriegertum und meint nicht zwingend die Herkunft oder Zugehörigkeit der Bezeichneten: So plündern „Franken" im Römischen Reich, dienen in der spätrömischen Armee und kämpfen als Verbündete an der Seite der Römer. Seit dem 4. Jahrhundert leben „Franken" als angesiedelte Kriegsgefangene oder als Foederaten - Vertragspartner im Dienst römischer Kaiser - vor allem in den Nordwest-Provinzen des Reiches. Dort bilden sie später eigene Herrschaftsbereiche.

Die Ableitung und Bedeutung des Namens "Franke" ist umstritten. Im Frankenkatalog werden die "Franken" als ein Verband von Stämmen im nordrhein-westfälischen Bereich angesehen, Geary nennt sie auch "Stammesschwarm", dessen Mitglieder sich "dann selbst mit dem Namen Franke [identifiziert hätten], der soviel wie „der Kühne“, „der Tapfere“  und später, nachdem er sich verbreitet hatte, „der Freie“ bedeutete, ein von den Franken selbst bevorzugter Bedeutungsgehalt." (S. 85)

Rheinhessen wird "fränkisch"

Als kurz nach der Mitte des 5. Jahrhunderts die Rheingrenze von der römischen Verwaltung endgültig aufgegeben wurde, strömten anscheinend Germanen aus den rechtsrheinischen Gebieten in unseren Raum: Im südlichen Rheinhessen (Worms) siedelte sich ein Teilstamm der Burgunder an, ansonsten vor allem Alamannen aus den südwestdeutschen Gebieten.

Als diese weiter nach Nordwesten ausgriffen, wurden sie 496 vom Franken-König Chlodwig I., der sich in der Konkurrenz verschiedener fränkischer Königreiche durchgesetzt hatte (s.u.), geschlagen. In der Folge dieses Sieges wurde unsere Region "fränkisch" - d.h. von Franken beherrscht, zu einem Frankenreich gehörig. So wanderte später der Name "Franken" weiter den Main hinauf bis nach Nordbayern.

Die ersten Reihengräber im Gräberfeld III (Rotwein- / Stevenagestraße) in Ingelheim werden ab etwa 500 datiert (Kaiserpfalz Journal 2020, S. 7), also etwa 50 Jahre nach dem endgültigen Ende der "römischen" Herrschaft in unserem Gebiet. Dort lagen also eigentlich keine "Franken", sondern viel wahrscheinlicher (ehemals) Siedler von der anderen Rheinseite, die unter "fränkische" Herrschaft gekommen waren. Sprachlich ist jedenfalls aufgrund der sog. Hunsrückbarriere die Verwandtschaft des hiesigen Dialektes mit dem Hessischen rechts des Rheines viel enger als mit den Dialekten von der Mosel, von Koblenz oder gar von Köln. Das spricht nicht für ein "fränkisches" Vordringen vom Niederrhein her, sondern für eine Besiedlung aus rechtsrheinischen Gebieten, die in römischer Zeit eigentlich ncht zum Herkunftsgebiet der Franken gerechnet wurden.

Die neuesten Grabungsergebnisse rund um die Remigiuskirche, eine große steinerne Kirche aus der 2. Hälfte des 7. Jahrhunderts mit einem Erwachsenen-Taufbecken in ihrem Turm (Grewe, 2010-2019), lassen darauf schließen, dass der Ingelheimer Raum offenbar auch für die Christianisierung eine erhebliche Bedeutung hatte. Diese Bedeutung Ingelheims enstspringt natürlich zu allen Zeiten seiner günstigen Verkehrslage am Rhein, der zwischen Mainz und Bingen nach West-Süd-West fließt, und an zwei wichtigen europäischen Fernstraßen, einmal in Nord-Süd-Richtung am Rhein entlang, aber auch in Ost-West-Richtung vom Main hinüber nach Nordfrankreich.

 

Frühe "fränkische" Spuren im Ingelheimer Raum

Heute erinnern an diese Siedlungsstellen die Ortsnamen auf "-heim", die vermutlich nach ihren jeweiligen Gründern oder Inhabern, fränkischen Adligen, benannt wurden. So hat wahrscheinlich auch eine fränkische Siedlungsstelle des sechsten (?) Jahrhunderts nach einem Adligen, einem Freien ihren Namen "Inghilinhaim" o.ä. erhalten - so in der ältesten erhaltenen Originalurkunde von 807.

Wenn im karolingisch-ottonischen Frühmittelalter der Name "Ingelnheim" ohne differenzierendes Unter- /Ober- verwendet wurde, dann war damit in der Regel der Königshof mit seinem Palatium in Nieder-Ingelheim gemeint. Zur Unterscheidung davon wurde wahrscheinlich das selzaufwärts gelegene Oberdorf mit den guten Weinlagen schon früh "Ingelheim superior", "Ober-Ingelheim", genannt. Die überdurchschnittlich hohe Menge von fränkischen Gräberfeldern in Ober- und Nieder-Ingelheim deutet auf eine erhebliche Siedlungsdichte beider Teil-Orte hin, aus denen sich die mittelalterlichen Dörfer Nieder- und Ober-Ingelheim entwickelten.

Die germanischen Siedler nutzten die Reste der verlassenen romanischen Landvillen als Steinbruch oder Friedhof (wie bei der Heidesheimer Georgskapelle). Als Unterkünfte jedoch bauten sie sich selbst große schilfgedeckte Holzhäuser nach germanischer Tradition, in denen Mensch und Vieh unter einem Dach zusammen lebten. Dazu brauchte man keine Fabriken, die Ziegel und Säulen herstellten, denn die wurden kaum mehr betrieben.

 

Zentral im Hintergrund das gemeinsame Großhaus für Mensch und Vieh; ganz links ein Vorratshaus auf Stelzen, rechts davor ein Grubenhaus (vertieft im Boden); rechts vorn ein weiteres großes Wirtschaftshaus; alles war umzäunt.


Die eigentlichen Hofstellen lassen sich archäologisch schwierig nachweisen, und ihre geringen Überreste (Pfostenlöcherspuren) liegen oft unter dicht besiedelten Ingelheimer Wohngebieten. Mittlerweile hat die Forschungsstele Kaiserpfalz aber an verschienen Stellen Nieder-Ingelheims solche Siedlungsspuren gefunden, vor allem sehr viele Grubenhäuser, und zwar die bisher ältesten (zwischen 525 und 580) an der Wilhelm-von-Erlanger-Straße ("Am gebrannten Hof"), im Saalgebiet, an der Ottonenstraße (ab 600) und im "Park de Roock". Vereinzelte Hinweise auf merowingerzeitliche Siedlungen wurden auch in Ober-Ingelheim, Groß-Winternheim und in Frei-Weinheim gefunden.

Vorher gefunden wurden schon einiger der dazu gehörenden Reihen-Gräberfelder, die damals üblicherweise in der Nähe der Hofstellen lagen; insofern kann man aus Gräberfeldern auf die Lage der Hofstellen schließen.

Teile eines sehr ausgedehnten Gräberfeldes aus merowingischer Zeit wurden schon 1978/79 sowie 2015-2021 an der Stevenage-Straße untersucht (= "Gräberfeld III"). Bei diesen Untersuchungen wurde 2015 eine antik-römische Gemme gefunden, die wohl in Zweitverwendung einem bedeutenden Franken mit in sein Hügelgrab gegeben worden war. Auch um die Remigiuskirche wurde neuerdings ein merowingisches Gräberfeld gefunden, dessen Ausdehnung noch nicht angegeben werden kann. Fast alle untersuchten Gräber sind aber schon in der späteren merowingischen Zeit ausgeraubt worden.

Wie ein Adliger in seiner Bestattungskleidung (!) etwa ausgesehen hat, wurde anhand von Funden des sog. Fürstengrabes von Planig (Anfang 6. Jh., östlich von Bad Kreuznach) rekonstruiert (Frankenkatalog II S. 692). Es ist vor kurzem auch im Mainzer Landesmuseum nachgebaut worden.

Links neben ihm die Figurine einer fränkischen Frau nach Grabfunden in Frei-Weinheim (im Ingelheimer Museum).

Zum Vergrößern bitte die Frau bzw. den Mann anklicken!

 

"Merowinger" und iro-fränkische Mission; Kirchenbau in Ingelheim

Ende des fünften Jahrhunderts geriet unsere Region in den Einflussbereich der sog. Merowinger, einer Königsfamilie, die seit Childerich (König der "Salfranken" in römischen Diensten, gestorben 481) in der Spätantike ihr Zentrum in den Städten Tournai - Soissons - Paris - Reims hatten. Hier romanisierten sich diese "Franken".

Ende des fünften und Anfang des sechsten Jahrhunderts dehnte von dort König Chlodwig I. (482 - 511) seine Macht immer weiter nach Süden und Osten aus, besiegte den letzten "römischen" König Syagrius 486, zehn Jahre später die Alamannen und 507 auch die Westgoten in Südwestfrankreich. Dadurch geriet die Ingelheimer Region im 6. Jahrhundert wieder unter einen sich verstärkenden romanischen Einfluss aus dem heutigen Frankreich und zugleich unter den Einfluss erneuter christlicher Missionstätigkeit, u.a. von irischen Mönchen, die - vom fränkischen Adel gefördert - in dieser Zeit das romanische Kirchensystem umgestalteten.

Kirchen wurden gebaut - anfangs wahrscheinlich einfache Holzkirchen - und Patron der (Nieder-) Ingelheimer Kirche wurde St. Remigius, der Bischof von Reims, der von ca. 436 bis ca. 533 gelebt hat und den Frankenkönig Chlodwig 496 (?) in Reims getauft haben soll. Er gilt allgemein als "Apostel der Franken" .

Frühe Kirchen und ein Königshof in Ingelheim

Die erste schriftliche Erwähnung der Remigiuskirche in Nieder-Ingelheim stammt aus dem Jahr 822, und zwar in einer Bestätigung einer (nicht erhaltenen) Schenkungsurkunde des Frankenherzogs und Hausmeiers Karlmann von 741 („…et ecclesiam in villa Ingulunheim in honore sancti Remei“). Damals wurden offenbar ihre Einkünfte zusammen mit denen von 25 anderen  Königskirchen von Karlmann dem neugegründeten Bistum Würzburg geschenkt; 13 dieser Kirchen hatten ein Martins- und drei ein Remigiuspatrozinium. Nicht zuletzt wegen des Ingelheimer Weines wird der Kirchenzehnt von St. Remigius ein sehr willkommenes Geschenk in Würzburg gewesen sein. Zugleich sicherten solche Schenkungen auch eine gute kirchliche Aufsicht über diese Kirchen, was sicher im Sinne der Könige war.

Karlmann förderte durch das Wirken des Missionars Bonifatius und sicherte sich damit auch die Unterstützung des Würzburger Bischofs Burkard, der die Interessen der fränkischen Hausmeier in Rom als Gesandter vertrat. Wegen des von Burkard ins Leben gerufenen Kilianskulteserhielt die Remigiuskirche ein zusätzliches Kilianspatrozinium (siehe Kiliangarten, Kilianshaus).

In ihrer Nähe hat  es auch schon vor dem Pfalzbau Karls des Großen einen Königshof ("villa" oder "curtis regia") gegeben. Befunde der Grabungen rund um die Remigiuskirche(2010-2013) haben ergeben, dass es dort seit den letzten Jahren des 7. Jahrhunderts einen großen, steinernen Kirchenbau gab, inmitten eines umfangreichen Gräberfeldes, und an der Stelle des stauferzeitlichen Turmes ein Baptisterium mit einem Taufbecken für Erwachsene.

Und wenn es schon eine größere Steinkirche gab, dann sollte es dort auch Verwaltungs- und Gästehäuser, vielleicht schon eine einfache Königshalle gegeben haben (wie in dem gut dokumentierten Königshof Annappes bei Lille). Nachgewiesen ist jedoch noch nichts, es wurde im fraglichen Gebiet aber auch noch nicht gegraben. Zwischen der Remigiuskirche und der Pfalz (Ottonenstraße) und an der Erlangerstraße wurden aber in den letzten Jahren Spuren von merowingischen Wohn- und Arbeitshäusern gefunden (Grubenhäuser, siehe oben).

Das Ingelheimer Gebiet war Königsland, woraus sich die besondere Rechtsstellung des späteren "Ingelheimer Reiches" (ab 15. Jh. "Ingelheimer Grund") entwickelte, eines Gebietes, das direkt den Königen unterstellt und mit Sonderrechten ausgestattet war. Zu diesem Königsgut gehörten natürlich umfangreiche Ländereien, deren volles Ausmaß sich heute nicht mehr rekonstruieren lässt. Sicher gehörten auch größere Waldungen dazu, u.a. der Königswald oder die "Königsheide" auf der Hochfläche des Westerberges und die "Heide", d.h. der wilde Niederwald auf dem Mainzer Berg zwischen Ingelheim und Finthen (an beide erinnern noch heute Flurnamen), und vielleicht auch schon der Ingelheimer Wald  im Hunsrück.

Gleichfalls noch in merowingischer Zeit dürfte auch in Ober-Ingelheim auf einem frühen fränkischen Gräberfeld eine weitere Kirche gebaut worden sein. Nachdem ihre Einkünfte - von 11 Huben und vier Mansen - durch Karl den Großen an das Kloster Hersfeld geschenkt worden waren, bekam sie dessen Patrozinium St. Wigbert. Ihre Nachfolgekirche ist die heutige evangelische "Burgkirche" (Namensgebung 1940). In der Nähe dieser Kirche muss man wahrscheinlich das merowingische Siedlungszentrum von Ober-Ingelheim annehmen.

Mit der Absetzung des letzten Merowingerkönigs Childerich III. im Jahre 751 durch den Vater Karls des Großen, Pippin, lassen die Historiker die Epoche der Karolinger beginnen, in der die hervorragende Pfalz gebaut und vielfach genutzt wurde.


Zurück zum Seitenanfang

Gs, erstmals: 26.07.05; Stand: 02.11.22