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Die Reformations-Auflagen (Articul) des Kurpfälzer Amtmannes für den Ingelheimer Grund

 

Autor: Hartmut Geißler

nach: Dieterich, 1904, S. 127-129


J. R. Dieterich konnte noch die ins Hessischen Staatsarchiv nach Darmstadt gelangten Teile der Bodmann-Habelschen Sammlung benutzen und druckte deren Dokumente zur Reformation im Oppenheimer Reichspfandgebiet in seinem Anhang ("Beilagen") ab.

Hier folgen die zwei Dokumente (Nr. 12 und 14) mit den Auflagen für den Ingelheimer Grund insgesamt und für den Schultheißen von Ober-Ingelheim im Besonderen. Nach den aus Dieterich übernommenen Texten folgen jeweils Übertragungen in ein besser verständliches Neuhochdeutsch, ergänzt durch einige Erklärungen und Kommentare.

Nr. 12

E r s t l i c h  seind denen kirchen- und schuldienern, so gottselig [sind], und zu denen man hofnung hett, das[s] sie sich gottes worts werden ihnen underweisen lassen, kirchenordnung und catechismi zugestelt und bevohlen worden, die zu lesen und die gegen Gotteswort zu halten und gott umb sein h. geist anzurufen und die alsdan in kirchen und schulen anzurichten und zu halten. Dan Churf. Pfaltz durchauß in der Pfaltz ein gleicheit will gehalten haben. Darzu sollen auch ihrer Churf. gn. schultheissen und räth iedes fleckens sie halten und an weisen.

Z u m  a n d e r n  soll kein kirchen- noch schuldiener angenommen oder ausgestelt werden, der nit zuvor zu Heidelberg examinirt und von ihrer Churf. Gn. presentirt worden, auf das[s] nit ungelerthe und unnutze leute zu solchen diensten einschleichen.

Z u m  3.  sollen alle bilder verbrent, sacramentheußlin, taufstein, steine [und] crucifix uf [den] strassen abgethan und zerschlagen, die altar abgebrochen und die löcher wieder zugemaurt, auch die flachen gemeh und crucifix verweisset werden. Desgleichen sollen auch die meßgewandt, alben, stolen, chorröck, und was ferner vor kleidung im bapstumb gebraucht werden, zerschnitten und armen leuten um gottes willen gegeben, doch das[s] die creutz [und] bilder daran zuvor [ab]geschnitten und verderbt, die monstrantz und kilch zerschlagen, ein ehrlich drinkgeschirr do rauß gemacht; item ein disch, darauf das abendmahl deß hern [gefeiert wird.] gemachtund gegen dem volk gesetzt werden. Daß Ave Maria und wetter-leuthen soll gentzlich abgeschafft sein, und morgens, wan man ahn die arbeit gehet, ein zeichen; uf den abend, wan man von der arbeit gehet, auch ein zeichen geleutet, und daß lateinisch gesang in der kirchen gentzlich underlassen werden. Die feldkirchen sollen auch von der abgotterey geraumt, auch den underthanen die holtz, schifern und mauren abzubrechen und in gemeinen oder andern nutz zu verwenden vergunnet werden.

Z u m  4.   soll Churf. Pfaltz policey-, ehe- und andere christliche ordnungen ernstlich und mit fleiß gehandhabt und die verbrecher gestraft werden. Sonderlich soll uber den kirchgang nachmittag zu dem catechismo oder kinderlehr gleich so ernstlich als vormittag am sontag gehalten [werden], und die alten auch darzu kommen, auch megt und knecht darzu sampt den kindern gehalten und die ungehorsamen gestraft werden. Gleichfals soll auch das fluchen und schweren, voldrincken, wan einer gleich kein unfleterey darbey anfengt, item unzucht und andere laster, das dantzen durchauß, auch bey hochzeiten, underlassen und die verbrecher ernstlich und mit gewissen penen gestraft werden.

Z u m  5.  so sollen schultheis und räthe uf die ungelehrte und wiederspennige kirchendiener ein fleissiges aufsehens haben, das[s] sie under dem volk keine verwirrung machen, die kirchendiener aber, so Churf Pfaltz iederzeit ordnen wird, vor gewalt und sonst, wie sich gepuhrt, anstadt ihro Churf. gn. schützen, schirmen und handhaben.

L e t z l i c h  soll auch das gemein säcklin in der kirchen, darin man das almusen samblet, am sontag under der predigt von ehrlichen leuthen, so aus der gemein mit christlichem gepet darzu erwehlt, umbgetragen, auch alle puncten jeder gemein vorgehalten und Churfpfaltz gnedigs veterlichs und christliches gemuth den underthanen vermeldt werden. Und dieweil vonnöten, das[s] einer verstendign persohn das aufsehen über die kirchen bevohlen werde, so ist bis auf fernere Churf. Pfaltz Verordnung dem pfarhern zu Wolfsheim als eim nahegesessnen von den räthen dieselbe uferlegt und ihme befohlen worden underweilen ein predigt zu Under Ingelheim (so!) zu thuen, dohin die andere kirchendiener des grundts kommen und sich mit ihm underreden [sollen], ehr auch sie etwan heimsuchen und uffehens haben, das[s] den obgeschriebenen articuln volg geschehe, darbey ihm schultheis und raht im grund schützen und in allen dingen die hand biethen sollen.

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Übertragung:

E r s t e n s  sind den Kirchen- und Schuldienern (Pfarrern und Lehrern; Gs), sofern sie (recht-)gläubig sind und bei denen man Hoffnung hätte, dass sie sich in Gottes Wort werden unterweisen lassen, Kirchenordnung und Katechismen zugestellt worden und es wurde ihnen befohlen, die zu lesen und sie mit dem Wort Gottes zu vergleichen [und] Gott um seinen Hl. Geist anzurufen; die sodann in den Kirchen und Schulen anzustellen und zu behalten. Denn die Kurfürstliche Pfalz will, dass überall in der Pfalz gleiche Verhältnisse herrschen. Dazu sollen auch die kurpfälzischen Schultheißen und Räte jeden Fleckens sie anhalten und anweisen.

Z w e i t e n s  soll kein Kirchen- noch Schuldiener aufgenommen oder angestellt werden, der nicht zuvor in Heidelberg geprüft und von ihrer Kurf. Gn[aden] präsentiert wurde, damit sich keine ungebildeten und unnützen Leute zu solchen Diensten einschleichen.

Z u m  3.  sollen alle Bilder verbrannt, Sakramentshäuschen, Taufsteine, Stein[bilder] und Kruzifixe an den Straßen abgebaut und zerschlagen werden, die Altäre abgebrochen und die Löcher (in der Wand) wieder zugemauert, auch die Wandgemälde und (gemalten) Kruzifixe weiß übertüncht werden. Desgleichen sollen auch die Messgewänder, Alben, Stolen, Chorröcke und was sonst noch an Kleidung im Papsttum in Gebrauch ist, zerschnitten und den Armen nach Gottes Willen gegeben [werden], die Kreuze und Bilder darauf sollen jedoch zuvor abgeschnitten und vernichtet werden, die Kelche und die Monstranzen zerschlagen, ein ehrbares Trinkgefäß daraus gemacht [werden]; ebenso ein Tisch, auf dem das Abendmahl des Herrn bereitet [wird] und der mit Blick zum Volk aufgestellt wird. Das Ave-Maria- und Wetter-Läuten soll ganz abgeschafft werden, und morgens, wenn man zur (Feld-)Arbeit geht, ein (Glocken-)Zeichen, am Abend, wenn man mit der Arbeit aufhört, [soll] auch ein Zeichen geläutet [werden]; und dass der lateinische Gesang in der Kirche ganz unterlassen wird. Die Abgötterei [soll] auch aus den Feldkirchen (Kapellen) geräumt [werden], es soll den Untertanen auch erlaubt werden, das Holz, die Schiefer(-eindeckung) und Mauern abzubrechen und für die Gemeinde oder zu anderem Nutzen zu verwenden.

Z u m  4.  sollen die kurpfälzischen Polizei-, Ehe- und anderen christlichen Ordnungen ernsthaft und fleißig angewendet werden und die Übertretungen („Verbrecher“) bestraft werden. Insbesondere soll über den Kirchgang hinaus nachmittags der Katechismus (-unterricht) oder die Kinderlehre ebenso ernsthaft wie am Vormittag abgehalten werden, und die Alten [sollen] auch dazu kommen, ebenso Mägde und Knechte zusammen mit den Kindern, und die Ungehorsamen [sollen] bestraft werden. Gleichfalls soll auch das Fluchen und Schwören, Volltrinken, gleich ob einer dabei keine Unflätigkeit anfängt, auch Unzucht und andere Laster, das Tanzen völlig, auch bei Hochzeiten, unterlassen und die Verbrecher ernsthaft und mit bestimmten Strafen bestraft werden.

Z u m  5.  so sollen Schultheiß und Räte über die ungebildeten und widerspenstigen Kirchendiener eine sorgfältige Aufsicht führen, damit sie im Volk keine Verwirrung anrichten, die Kirchendiener aber, die die Kurpfalz jederzeit zuweisen wird, vor Gewalt und anderem, wie es sich gebührt, anstelle ihrer Kurf. Gn[aden] schützen, beschirmen und behandeln.

L e t z t l i c h  soll auch das „Gemeinde-Säcklein“ in der Kirche, darin man die Almosen sammelt, am Sonntag nach der Predigt von ehrbaren Leuten, die aus der Gemeinde unter christlichem Gebet dazu gewählt [wurden], herumgetragen, auch alle Punkte (dieser Verordnung) jeder Gemeinde vorgehalten und die väterliche und christliche Gesinnung der Kurpfalz den Untertanen mitgeteilt werden. Und weil es nötig ist, dass einer verständigen Person die Aufsicht über die Kirchen anvertraut wird, so ist diese bis zu einer Kurpfälzer Verordnung dem Pfarrer zu Wolfsheim, weil er seinen Wohnsitz in der Nähe hat, von den Räten übertragen und ihm befohlen worden, bisweilen in Unter-Ingelheim zu predigen, wohin auch die anderen Kirchendiener des Grundes kommen und sich mit ihm unterreden sollen, er sie auch gelegentlich besuchen und kontrollieren solle, so dass den obigen Artikeln Folge geleistet werde, wobei ihn Schultheiß und die Grundräte schützen und bei allen Dingen zur Hand gehen sollen.

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Erläuterungen und Kommentare:

Im ersten "Articul" wird geregelt, dass die bisherigen lutherischen (schon nicht mehr katholischen) Geistlichen und Lehrer weiter beschäftigt werden können, wenn sie sich zur neuen reformierten, sprich calvinistischen Ordnung bekehrten. Immerhin werden sie aufgefordert, Kirchenordnung und Katechismus selbst mit Gottes Wort zu vergleichen; ob sie dazu überhaupt im Stande waren, wo sie es doch bisher kaum gewohnt waren, Gottes Wort selbständig zu lesen, zumal wenn es nur lateinisch vorlag? Dass dabei betont wird, dass die Kurpfalz trotz der unterschiedlichen historischen Herkunft ihrer Territorien, z. B. Pfandgebiete, ehemals freie Reichsstädte, eigener Pfälzer Besitz, großen Wert darauf legt, dass eine "Gleichheit" herrschen sollte - das ist typisch für den modernen Staat (siehe Länderfinanzausgleich).

Im zweiten Artikel wird vorgeschrieben, dass alle "Kirchen- und Schuldiener" vor ihrer Anstellung in Heidelberg überprüft werden müssen, um Fehlbesetzungen zu vermeiden.

Im dritten Artikel werden die religiösen "Säuberungen" in und um die Kirchen im Einzelnen ausgeführt, die eine in der westlichen Christenheit einzigartige Bilderstürmerei darstellen, vergleichbar höchsten mit dem Bilderstreit in der Ostkirche zur Zeit Karls des Großen. Sie betrafen auch die Burgkirche in Ober-Ingelheim, aus der alle Altäre entfernt wurden und alle Malereien übermalt. Aus den Feldkirchen (Kapellen) sollten nur die Elemente der "Abgötterei" entfernt werden, die Baumaterialien durften sich anschließend die Einwohner holen. Das könnte erklären, warum zur Zeit der Anfertigung der Rheingaukarte 1573 die Heilig-Kreuz-Kapelle an der Stelle des Hotels Multatuli noch zu sehen war - oder ihre Ruine; Altar und Bilder waren jedoch wahrscheinlich schon acht Jahre zuvor entfernt worden.

Der 4. Artikel zeigt in aller Deutlichkeit den sittenstrengen Calvinismus mit gegenseitiger sozialer Kontrolle: verpflichtender Besuch des Gottesdienstes, des Katechismus- und Kinder-Unterrichts, auch für Alte, Mägde und Knechte, mit Strafandrohung für Fehlende; Unsitten sollen verschwinden, sogar das Tanzen an Hochzeiten; dies bedeutete wohl prinzipiell auch das Aus für das Tanzen und Trinken beim Radbrennen anlässlich des Ungebotenen Dings. Wenn es Reutlinger ein Jahrzehnt später aber immer noch unter den Ingelheimer Sitten ausführlich beschreibt, dann könnte es sich doch als zählebiger erwiesen haben als diese hier referierten Vorschriften. Man darf aber annehmen, dass eine solche "Reformation" bei den feierfreudigen Einwohnern des Ingelheimer Grundes (s. der beliebte "Imbs") nicht auf große Gegenliebe stieß.

Wenn im 5. Artikel Schultheiß und Grundräte verpflichtet werden sollten, die (bisherigen) Kirchendiener zu beaufsichtigen, vor allem wenn sie "ungelehrt" oder "widerspenstig" seien, dann zeigt diese Bestimmung, dass man durchaus mit heftigem Widerstand rechnete. Der Herr Daniel in Ober-Ingelheim war eine solche Person. Darauf zielt auch die Schutzvorschríft für das neue Kirchenpersonal, das die Kurpfalz einsetzen wollte.

Im letzten Artikel wird der Klingelbeutel im Ingelheimer Grund eingeführt. Die alemannische Verkleinerungsform "Säcklin" deutet auf eine Herkunft aus dem süddeutsch-schweizerischen Raum.
Der Ingelheimer Grund wurde außerdem der kirchlichen Aufsicht des Pfarrers und Inspektors von Wolfsheim, Engelbert Faber (Dieterich 1904, S. 75), unterstellt.


Nun, das waren die Vorstellungen der kurpfälzischen Regierung bei der Einführung ihrer Reformen, aber Heidelberg war weit und auch von Oppenheim war es weit bis nach Ingelheim, sodass man sich bei der Durchführung dieser Maßnahmen auf die Mithilfe der (noch adligen) Schultheißen vor Ort verlassen musste. Es kann durchaus sein, dass die Verweigerung derer vom Adel, die Schultheißenstellen zu besetzen, wie Reutlinger (Blatt 161 f.) aus den 80er Jahren berichtet, darin ihren Hauptgrund hatte, nicht nur in den schwindenden Einnahmemöglichkeiten. Es wird aber anfangs vieles nicht so heiß gegessen worden sein, wie es hier erscheint.

Jedenfalls aber war die calvinistische Reformation in der Kurpfalz und damit auch im Ingelheimer Grund letztlich durchgreifend erfolgreich, bis in den zwanziger Jahren des folgenden Jahrhunderts durch die Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges die erste Rekatholisierung begann (Informationstafel über den karolingischen Palast im Saal von 1628: "als Catholische glauben wiederumb ein geführt worden ist").

 

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Gs, erstmals 13.06.16; Stand: 21.03.21