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Sebastian Münsters Studiengang


Autor: Hartmut Geißler
(unter Mitwirkung von Margarete Köhler)
nach Burmeister 1963


„Die ersten Studienjahre Münsters, von seinem Weggang von Ingelheim bis zu seiner Ankunft im Kloster Rufach 1509, bleiben im dunkeln, da jeglicher zeitgenössischer Beleg aus diesen Jahren fehlt.“

So beurteilte Karl-Heinz Burmeister 1963 den Versuch, seinen Studiengang genau zu rekonstruieren.

"Die archivalische Lage für die Jugendjahre und Studienzeit Münsters ist sehr schlecht. Die Ingelheimer Akten kennen Münster selbst nicht; nur weniges liefern sie zu seiner Familiengeschichte. Auch die Universitätsarchive von Heidelberg, Löwen, Freiburg und Tübingen kennen Münster nicht, ebenso wenig die Archive der Minoritenklöster der genannten Städte, zu denen noch Rufach, Basel und Pforzheim hinzukämen. Nachrichten von Zeitgenossen über Münster fehlen, da Münster noch weitgehend unbekannt war."

Bald nach seinem Tode erschienen erste Biografien, von denen die Trauerrede seines Schülers Schreckenfuchs, die in Hebräisch verfasst war, erst im 20. Jahrhundert übersetzt und herausgegeben wurde.

Andere Kurzbiografien des 16. Jahrhunderts, insbesondere die von Heinrich Pantaleon (1566), auch die von Christian Wurstisen (1577) und André Thevet (1580), sind für nachfolgende Autoren grundlegend geworden. Sie alle "haben Münster zu seinen Lebzeiten irgendwie nahegestanden oder doch in Basel gelebt" und werden deshalb einige Einzelheiten über sein Leben erfahren haben, die anderweitig nicht belegt sind.

Ihre Zuverlässigkeit wird allerdings nach Burmeisters Einschätzung dadurch stark gemindert, dass sie "nicht frei von groben Irrtümern, Ungenauigkeiten und Verwechslungen" sind.

An dieser Quellenlage hat sich prinzipiell bis heute nichts verändert. Unklar ist sowohl die Frage nach dem Jahr des Wegganges von Ingelheim ins Studium als auch die Frage nach seinem ersten Studienort.

a) Heidelberg

Pantaleon und Wurstisen schreiben übereinstimmend, Münster habe seine höheren Studien, das Quadrivium, in Heidelberg aufgenommen. Schreckenfuchs verschweigt leider den Ort seines ersten Studiums "...sandten sie - die Eltern - ihn vertrauensvoll auf irgendeine Universität". Da Münsters Name nicht in den erhaltenen Matrikeln der Universität Heidelberg zu finden ist, auch später nicht, als er ab 1524 dort ordentlicher Lektor war, entscheidet sich Burmeister in minutiöser Interpretation der Berichte der drei Autoren dafür, dass Münster am Generalstudium der Franziskaner in Heidelberg begonnen habe, das sich nur wenig von den entsprechenden Studiengängen der Universität unterschied, aber keine akademischen Grade verlieh.

Eine dortige große Disputation zwischen Franziskanern und Dominikanern über die unbefleckte Empfängnis Mariae im Jahre 1506 erwähnt er in der Cosmographie.

Als Grund für Münsters Eintritt in den Franziskanerorden wurde vielfach der materielle Nutzen angeführt, weil er dadurch kostenlos studieren konnte. Burmeister hält dieses Motiv für zu einseitig und verweist auf religiöse und wissenschaftliche Motive, die Schreckenfuchs erwähnt, sowie auf seine Ingelheimer Erziehung.

Es sei wahrscheinlich für Münster besonders anziehend gewesen, "dass der Orden über die Wissenschaft die Moral setzte".

Bis zu Burmeisters Forschungen war man einhellig davon ausgegangen, dass Münster 1505 mit 14 Jahren - so Wurstisen - das Elternhaus verlassen habe und 1505 in den Orden eingetreten sei. Wurstisen ging aber vom falschen Geburtsjahr 1489 aus. Aufgrund einer Reihe von Indizien kam Burmeister zu dem Schluss, dass er wahrscheinlich erst mit 17 Jahren, also 1505, sein Studium in Heidelberg aufgenommen habe und zwei Jahre danach, also 1507, in den Franziskanerorden eingetreten sei (S. 18 f.). Diese Annahmen sind bis heute unwidersprochen.


b) Löwen/Leuven in Belgien

Nach der Rezeption von Schreckenfuchs musste man die Annahme, Münster habe bis 1509 in Heidelberg studiert, korrigieren, denn Schreckenfuchs berichtet noch von Studienaufenthalten auf den Ordensschulen in Löwen/Leuven, einer Kleinstadt östlich von Brüssel, und in Freiburg i. Br. Nach Schreckenfuchs betrieb er in Löwen von früh bis spät eifrige Studien in Mathematik und Geographie, zumal damals die Astronomie eine verborgene Wissenschaft und ihre Kenntnis nur wenig verbreitet war. Gleichwohl bleibt Burmeister skeptisch und hält einen Irrtum von Schreckenfuchs für möglich, denn in Löwen gibt es keinerlei Hinweise auf einen Aufenthalt Münsters dort, sein Name ließ sich in der Löwener Matrikel trotz wiederholter Suche nicht auffinden, und die Chronologie von Schreckenfuchs ist, was Löwen angeht, nicht stimmig. Burmeister setzt seinen Aufenthalt, wenn er denn vom Orden wirklich dorthin gesandt wurde, auf das Jahr 1507 an.


c) Freiburg i. Br.

Auch für einen Studienaufenthalt in Freiburg sind keine direkten Quellen vorhanden. Er ist aber wahrscheinlich, da Schreckenfuchs als seinen Lehrer dort Gregor Reisch (1467-1525) erwähnt, mit dem er auch später noch in wissenschaftlichem Verkehr stand. Auch seine Bekanntschaft mit Johannes Eck, der in Freiburg zur fraglichen Zeit gleichfalls Schüler von Reisch war, macht ein Studium Münsters in Freiburg wahrscheinlich.


d) Rufach/Rouffach im Elsass (zwischen Colmar und Mulhouse)

Sowohl Reisch als auch Eck waren mit Konrad Pellikan, der nach eigenem Bekunden 1508 von seinem Orden von Basel ins Kloster Rufach versetzt worden war, befreundet. Zu ihm wechselte Münster - nach Schreckenfuchs im Jahre 1509 - nun nach Rufach.

Hier setzte Münster vor allem die Hebräisch-Studien fort, die er wohl schon in Freiburg begonnen hatte.

Links: das Minoritenkloster; Cosm. 1550

Nach Pellikans Chronik war Münster "ex auditoribus meis hactenus studiosissimus" - "von meinen Zuhörer bislang der fleißigste Student" (Gs).

Das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler wurde immer enger und freundschaftlicher, was sich auch in dem intensiven Briefwechsel später ausdrückt. Pellikan blieb sein einziger persönlicher Lehrer des Hebräischen, während er mit mit dem zweiten Hebräischlehrer, dem Juden Elia Levita, nur brieflichen Kontakt hatte.

"Ein Bild von den hebräischen Studien Münsters in Rufach gewinnt man aus seiner Sammelhandschrift UKOl. M. 364. Diese überwiegend hebraistische Handschrift enthält u.a. neben hebräischen Texten einzelner biblischer Bücher (Jonas, Ecclesiastes, Teile der Psalmen) und aramäischen Paraphrasen (Onqelostargum) einzelner ausgewählter Kapitel die folgenden besonders bemerkenswerten Teile:
1. Eine hebräische Grammatik, ca. 40 Seiten stark;
2. ein hebräisch-lateinisches Wörterbuch, ca. 160 Seiten; es enthält einen Schreibervermerk, dem zufolge er dieses Wörterbuch in der Nacht vom 11. zum 12. August 1510 "festino stilo“ beendet hat;
3. ein aramäisch-lateinisches Wörterbuch, ca. 50 Seiten, laut Schreibervermerk am 14. August 1510 von Münster beendet.

Dieses Wörterbuch ist deshalb von besonderem Interesse, weil es uns zeigt, dass sich Münster vom Anbeginn seiner hebraistischen Studien mit dem Aramäischen beschäftigt hat, dessen Grammatik und Lexikographie er später in Deutschland begründet hat. Auf die einzelnen Teile der Handschrift wird noch in anderem Zusammenhang einzugehen sein." (Burmeister 1963, S. 22)

"Münsters Studien in Rufach galten nicht allein dem Hebräischen, sondern auch der Mathematik, Astronomie und Geographie, wie Pellikan und Schreckenfuchs übereinstimmend berichten. Münster selbst nennt Pellikan seinen „primus in Hebraicis et Mathematicis praeceptor“, wobei primus zuerst rangmäßig, dann zeitlich zu verstehen ist.

Münster hat sich seit dem Beginn seiner Studienzeit mit den Fächern des Quadriviums befasst, andererseits ist Pellikan nicht der bedeutendste Lehrer Münsters in den mathematischen Fächern geblieben. Wenn wir einen Schluss von den mathematischen Teilen der Rufacher Sammelhandschrift UKOl. M. 364 auf den Gesamtunterricht Pellikans ziehen dürfen, so hat Pellikan in seinem mathematisch-astronomischen Unterricht den Schwerpunkt auf die Chronologie gelegt. Das entspricht der mittelalterlichen Praxis, die die Berechnung der Kirchenfeste in den Mittelpunkt der mathematisch-astronomischen Studien gestellt hatte.

Auch Münsters spätere mathematische Schriften gehen von derartigen praktischen Gesichtspunkten aus." (Burmeister 1963, S. 23)

Wenn auch Pellikan betont, dass Münster in Rufach das Studium der Theologie und der Philosophie nicht vergaß, so hat es doch den Anschein, als habe er diese Studien mit wenig Eifer betrieben. Seine Einstellung zu der auf Aristoteles gegründeten scholastischen Schule äußert sich deutlich im Vorwort, das er 1524 zu Jonas schrieb:

"tu disce sacras linguas, quibus instructior ad sacras litteras tractandas venias, quam si mille Aristotelis commentaria devorasses!" = "Du lerne die heiligen Sprachen, mit deren Hilfe du die heiligen Schriften klüger interpretieren kannst, als wenn du tausend Kommentare des Aristoteles heruntergeschlungen hättest!" (Gs)

Im Mittelpunkt seiner theologischen Ausbildung in Rufach standen stattdessen die Kirchenväter Augustin, Ambrosius und Hieronymus. Pellikan nannte Münsters theologische Bildung eine "simplicitas christiana", eine "christliche Einfachheit".

Burmeister erwägt, ob man Münsters philosophieferne Auffassung von Theologie mit seiner Zugehörigkeit zum Franziskanerordens erklären könne, "indem er die Forderung der materiellen Armut auch als eine Forderung der geistigen Einfachheit verstand." (Burmeister 1963, S. 24)

"Man kann Burmeister ein auf Luther bezogenes Zitat entgegenhalten: „Es nimmt der historischen Persönlichkeit nichts von ihrem Charakter, wenn betont wird, dass sie eingebunden ist in die großen Linien historischen Wandels.“ (Schorn-Schütte, Die Reformation, S. 12). Schon seit geraumer Zeit hatten sich kritische humanistische Theologen mit der akademischen Lehre der philosophisch orientierten Scholastik auseinandergesetzt. Sie forderten, man solle die Theologie enthellenisieren und sich stattdessen wieder auf das biblische Wort (Sola Scriptura) sowie die Morallehre besinnen. Dazu gehörte auch die Befassung mit den alten Kirchenlehrern. S. Münster zeigt sich hier als gelehriger Schüler Pellikans, der schon früh Luthers Auffassungen zuneigte. Reformgedanken hatten im Franziskanerorden Tradition und entsprachen dem Geiste ihres Gründers." (Margarete Köhler).

Die einzige Predigt Münsters, von der wir etwas erfahren, war eine lateinische Predigt vor dem Provinzialkapitel 1511 über die freiwillige Armut nach Luk. 22, 35. Aber nicht er hat diese Predigt verfasst, sondern Konrad Pellikan, obwohl Münster nur wenige Monate vor seiner Priesterweihe stand und ihm eine eigene Predigt durchaus zuzumuten war.

Am Sonntag, dem 18. April 1512, am Weißen Sonntag, feierte Münster in Pforzheim (?) nach den Datumsüberlegungen Burmeisters seine Primiz als geweihter Priester. Über eine weiter gehende seelsorgerliche Tätigkeit Münsters danach ist nichts bekannt. Er fühlte sich offenbar mehr zu wissenschaftlicher Tätigkeit hingezogen.


e) Pforzheim

Als im September 1511 Pellikan von Rufach als Guardian (= Vorsteher eines Klosters) nach Pforzheim versetzt hatte, nahm er Münster als seinen "subditus" mit, als eine Art Assistenten. Akademische Grade gab es ja beim Franziskanerstudium nicht.

Seine bisherigen Studien dürfte er dort fortgesetzt und vielleicht auch schon die eine oder andere Lehrtätigkeit ausgeübt haben. Er bekam nun Kontakt zu Reuchlin, dessen Bibliothek er in Stuttgart benutzen konnte. Ebenfalls stand er in Kontakt mit Wolfgang Capito, der damals im benachbarten Bruchsal lebte. Bei beiden ging es um die Hebraistik.


f) Tübingen

Seine eigentliche Studienzeit endete nun, als er - wahrscheinlich Ende 1514 - nach Tübingen wechselte, weil sein verehrter Lehrer Pellikan Sekretär des Provinzials Kaspar Satzger geworden war. In Tübingen ist Münster von 1515 - 1518 nachweisbar, nun als Lektor für Theologie und Philosophie. Während über diese eigentliche Lehrtätigkeit von ihm nichts Näheres bekannt ist, gibt es über seine fortgesetzten Studien, und zwar mathematisch-astronomische Studien, einige Informationen.

Er schließt sich nun einem neun Lehrer an, Johannes Stöffler (1452 - 1531), auf den ihn wahrscheinlich Pellikan hingewiesen hatte. Ähnlich wie der Rufacher Lehrer Pellikan versuchte Stöffler all' sein Wissen an Münster zu vermitteln, der die Ausarbeitungen Stöfflers abschrieb. Astronomische Studien traten in den Vordergrund und drängten das Hebräische etwas zurück.

In Tübingen traf Münster auch mit Melanchthon zusammen, der an der dortigen Artistenfakultät lehrte. Beide haben auch später noch in Briefwechsel gestanden, dessen Briefe aber leider verloren sind. Münsters Aufenthalt in Tübingen hat also eine Doppelgestalt: Einerseits lernt er weiter, und andererseits beginnt er selbst zu lehren.

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Gs, erstmals: 21.07.06; Stand: 21.12.20