Autorinnen: Dr. Gabriele Mendelssohn (1 bis 3) und Margarete Köhler (4)
1. Anfänge der Geographie
Die Geschichte der wissenschaftlichen Geographie reicht bis in die griechische Antike zurück. Geographen wie Herodot (484 bis 424 v. Chr.) hielten das durch Überlieferungen, Berichte und eigene Reisen zusammengetragene geographische Wissen in Texten fest. Claudius Ptolemaeus (um 100 bis 178 n. Chr. ) aus Alexandria systematisierte das topographische Wissen seiner Zeit und gab eine wissenschaftliche Anleitung zum Zeichnen von Erdkarten.
2. Die Geographie im Mittelalter
Ins abendländische Mittelalter fand das antike Wissen nur teilweise Eingang, wurde dann jedoch in einen religiös gedeuteten kosmologischen Zusammenhang gestellt. Die bereits in der griechischen Antike bekannte Kugelgestalt der Erde fand allgemeine Akzeptanz. Eine neue Blüte erlebte die Geographie im Hoch- und Spätmittelalter. Die Erfindung des Kompasses (um 1200), die gestiegenen Anforderungen der Schifffahrt und des Handels, das wachsende Interesse der Fürstenhöfe, die Kreuzzüge, die Übernahme von geographischem Wissen der Araber sowie schließlich die Wiederentdeckung der Werke des Ptolemaeus trugen dazu bei. Ptolemaeus galt in der zweiten Hälfte des 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts als geographische Autorität. Nach der Erfindung des Buch- und Kartendrucks fanden seine Werke ebenso wie andere geographische Schriften eine weite Verbreitung. Das geographische Wissen war über den Stand der Spätantike bis dahin kaum hinausgekommen.
3. Ein neues geographisches Weltbild
Mit den außereuropäischen Entdeckungen, die einen erheblichen Wissenszuwachs zur Folge hatten, setzte seit dem Ende des 15. Jahrhunderts eine neue Epoche der Geographiegeschichte ein. Die Nachfrage nach geographischen Texten, Karten und Globen durch Seefahrer, Fernhandelskaufleute und Fürsten stieg rasch an. Durch die Einbeziehung der neu entdeckten Kontinente entstand ein neues geographisches Weltbild, das sich immer mehr aus der religiös-kosmographischen Einbettung löste.
4. Sebastian Münsters geographisches und kosmographisches Werk
Mit der Geographie und ihren Nachbarwissenschaften beschäftigte sich Sebastian Münster seit seiner frühen Studienzeit. Hauptsächlich Stöffler, sein Lehrer in Tübingen, dürfte ihm das Rüstzeug für seine spätere Arbeit vermittelt haben.
Münsters eigenes geographisches Schaffen war auf ein Ziel ausgerichtet: die Herausgabe einer Kosmographie. Eine wichtige Grundlage für diese Arbeit war seine Befassung mit den Werken der klassischen Geographie. In seinen Baseler Jahren gab er die Schriften der antiken Geographen Ptolemäus, Mela und Solinus heraus. Der von ihm selbst kommentierten „Geographia“ von Ptolemaeus folgten nach der Erstauflage von 1540 noch vier weitere. Ebenfalls als Vorarbeiten zu seinem Hauptwerk sind die „Germaniae descriptio“ (1530) und die „Mappa Europae“ (1536) anzusehen.
Die erste Auflage seiner „Cosmographie“ kam 1544 bei Petri in Basel heraus. Das geographische Material entnahm er vorwiegend den antiken Quellen, ergänzte es aber auch durch eigene Beobachtungen (Reisen) und Berichte von Mitarbeitern. Außerdem wertete er die einschlägige zeitgenössische Literatur aus und befasste sich sehr eingehend mit den Reiseberichten des Marco Polo und anderer Seefahrer.
Als erstes vollgeographisches Werk (alle Teilgebiete umfassend) fand die Kosmographie in ganz Europa großen Anklang. Nach heutigem Sprachgebrauch würde man sie als Bestseller bezeichnen. Es erschienen Auflagen in deutscher, lateinischer, französischer, italienischer und tschechischer Sprache. Münster hatte ein populäres Werk geschaffen, mit dessen Hilfe sich nach seiner theologischen Intention jedermann über Gottes Schöpfung informieren und so den Weg zu ihm finden konnte.
Münster war bemüht, in seinem Werk das enzyklopädische Wissen seiner Zeit zu sammeln und es mit Unterstützung eines Netzwerks von Mitarbeitern laufend zu aktualisieren. Er war noch ganz dem geozentrischen Ptolemäischen Weltbild verhaftet. Die revolutionären Erkenntnisse seines Zeitgenossen Kopernikus waren bezeichnenderweise für ihn kein Thema. Es ist kaum vorstellbar, dass man in seinen Kreisen von dem 1543 erschienenen Werk „De revolutionibus orbium caelestium libri VI“ nichts wusste. Mit umstrittenen naturwissenschaftlichen und theologischen Ideen setzte er sich nicht öffentlich auseinander.
Seltsam widersprüchlich zum wissenschaftlichen Ernst, den Münsters Werke spiegeln, wirken auch manche unrealistischen bzw. klischeehaften Schilderungen in der Kosmographie. Möglicherweise wurden, um den kommerziellen Erfolg des Werkes zu fördern, Zugeständnisse an die Erwartungen der Leserschaft gemacht. Münster, als Herausgeber, und sein Stiefsohn Heinrich Petri, als Verleger, hatten ein beträchtliches finanzielles Risiko abzufedern. Unter diesem Aspekt musste sich vielleicht stellenweise der Idealismus dem kaufmännischen Denken unterordnen. Die den heutigen Leser erheiternden Kuriositäten mindern jedoch nicht die herausragende Bedeutung der Enzyklopädie für die damalige Zeit. Münsters spezifischer Einfluss auf das geographische Denken seiner Zeit bestand in seinem Bemühen, klassische geographische Vorstellungen hellenistischen Ursprungs mit dem biblischen Weltbild und reformiertem theologischem Denken in Einklang zu bringen.
Gs, erstmals: 29.08.06; Stand: 21.12.20