Autor: Hartmut Geissler
Auf der Basis von Hinkmar, de ordine palatii von 882 (dmgh, Fontes iuris Germanici antiqui in usum scholarum separatim editi (Fontes iuris) 3)
Seyfarth, Reichsversammlungen (1910),
Weber, Reichsversammlungen im ostfränkischen Reich (1962)
Zotz, Palatium (in: Staab, 1990)
Eichler, Fränk. Reichsversammlungen (2007)
Eichler, Karol. Höfe und Vers. (2011)
Ley in Aachen (2013), S. 252-273
Hermann Heimpel definierte 1965 eine Pfalz als eine "mit einem Wirtschaftshof und meist mit einer Befestigung verbundene ... Zurüstung zur mehr oder weniger langen Aufnahme des gewisse „Kernräume“ des Reiches . . . durchziehenden Herrschers und seines Gefolges. Der König soll im Raum „regieren“ können: schlafen, beten, essen, trinken, spielen, jagen, richten, urkunden, den Armen wohltun und im Stil einer fast ausschließlich mündlichen Regierungsweise Hoftage und Synoden abhalten können." (GWU 1965, S. 473) Brühl (Fodrum) übernahm diese Beschreibung 1968.
Für solche Tätigkeiten brauchten die Könige natürlich Gebäude, denn nicht alles ließ sich wie das Jagen und die Heeresversammlung unter freiem Himmel oder behelfsmäßig aus Zelten erledigen, also Räume, zumeist in Gebäuden ...
- zum Schlafen, zum Essen und Trinken und zum Spielen
- zum Beten
- zum Regieren, d. h. für Reichsversammlungen und Hoftage, für Synoden, für Empfänge von Gesandtschaften, zum Richten, zum Verhandeln mündlicher Besitzübergabe mit der Ausstellung von Urkunden, für viele vertrauliche Gespräche, zum Vorlesen und Diktieren von Schriftstücken
- zur Demonstration seiner Wohltätigkeit
Drei Bauglieder zählte Adolf Gauert (1965, S. 5) zum "Grundstock" einer "Pfalz":
- Königsunterkunft
- Reichssaal
- Pfalzkapelle
Ähnlich äußerte sich auch 36 Jahre danach Annie Renoux zu den Pfalzen des westfränkischen Reiches nach den Reichsteilungen; sie betont allerdings ihre Weitläufigkeit, die das Ingelheimer Pfalzmodell nicht gerade widerspiegelt:
"Es waren weitläufige Anlagen, in denen sich ein glanzvolles Zentrum von schlichten Nebengebäuden abhob. Dieses Zentrum war von großer symbolischer und praktischer Bedeutung und umfasste in seiner Mitte die aula, die camera (Königswohnung; Gs) und den kirchlichen Kern der Anlage." (S. 37)
Über die Raumbedürfnisse für die vielfältigen Regierungshandlungen haben sich weder Gauert noch Renoux geäußert. Ein Wunder ist das bei den geringen Bauspuren aus karolingischer Zeit freilich nicht. In den Grundrisszeichnungen von Pfalzen sind zwar, wo möglich, Kirche und Königssaal identifiziert, aber kaum eine Königsunterkunft, wohl weil diese archäologisch als solche schwer nachzuweisen ist, geschweige denn Gebäude für Regierungshandlungen.
In Ingelheim kennen wir die Aula regia als Königssaal und die Remigiuskirche als Pfalzkapelle. Eine kleine Kapelle, der Trikonchenbau, existierte im Saal zwar schon in karolingischer Zeit, konnte aber natürlich nicht die Bedürfnisse einer großen Festkirche erfüllen.
Wo aber war die Königsunterkunft, wo konnte der König mit all' seinen Angehörigen, Bediensteten, Beratern und seiner Leibwache "schlafen, essen, trinken, spielen"? Auch in Ingelheim bewegen wir uns bei der Suche nach einer Königsunterkunft in bloßen Vermutungen: Diente eines der beiden anderen Großgebäude im Palastbereich (Nordflügel und Halbkreisbau) als Unterkunft für den König (und seine Familie mit Gefolge), mit Räumen zum Schlafen, Essen und anderen privaten oder öffentlichen Tätigkeiten?
Dafür spräche die hoch- und spätmittelalterliche Tradition, die Könige hätten in den (westlichen) Gebäuden des Komplexes gewohnt (Stauferzeit: Karl der Große sei darin geboren; Sebastian Münster: "hausieret"). Goethe bekam bei seinem Besuch in Nieder-Ingelheim 1814 Knochen von Wildtieren im Burggraben gezeigt, woraus man auf die Lage der Palastküche schließen wollte.
Dagegen spricht jedoch die Tatsache, dass bei allen Grabungen seit 1909 keinerlei Anzeichen für Küchen oder Wohnräume gefunden wurden, sondern lediglich Indizien für aufwändig gestaltete Repräsentationsräume (Wandbemalung, Bodenbeläge, Säulengänge).
Wir stehen deshalb bei der Ingelheimer Pfalzanlage vor einer einzigartigen Situation: Wir können erheblich mehr darstellbare Gebäude vorweisen als andere karolingischen Pfalzen und suchen nun ihre Funktionen, wobei die rein stilistische Einordnung als repräsentative "Herrschaftsarchitektur" kaum weiterhilft.
Heinrich Weber schrieb 1962 zu dieser Gebäudefrage in seiner Promotion über die Reichsversammlungen im ostfränkischen Reich, bezogen auf die von ihm untersuchte Epoche des 9./10. Jh.:
"Auf keine andere Frage ist es so schwer, eine Antwort zu geben, wie gerade auf die nach den Räumlichkeiten, den Verhandlungsvorgängen, der Zeitdauer und den Formen der Entlassung (der Versammelten; Gs). Die Quellen sind in den Andeutungen so karg und knapp, daß sich nur schwer eine Vorstellung gewinnen läßt. Es fehlt jeglicher Hinweis auf die Größe und Anordnung der Versammlungsräume." (S. 72)
Weber kannte zwar Hinkmars Schrift und Seyfarths Untersuchung, aber natürlich noch nicht die Ergebnisse der neueren Ingelheimer Pfalzforschung, sodass er sich auf der Basis der ihm zur Verfügung stehenden Grundrisszeichnungen oder Modelle anderer karolingischer Pfalzen keine Vorstellung davon machen konnte, in welchen Räumen was wie ablaufen konnte. Das Normale, das Selbstverständliche wurde und wird eben nicht festgehalten. Wer von uns macht schon Fotos von den Autobahnraststätten, die wir auf einer Fahrt in den Urlaub selbstverständlich immer benutzen?
Nur die kurze Erwähnung eines Unfalls hat Weber gefunden, dass nämlich bei einer Versammlung in Forchheim 896 die Decke eines Obergeschosses (?) unter der zu großen Last der vielen Versammelten einbrach und auch der Kaiser Arnulf schwer verletzt wurde (S. 73).
Eine Antwort auf diese Fragen kann möglicherweise der Erzbischof Hinkmar von Reims (800/810 - 882) geben.
Hinkmar ist nämlich der einzige Autor des Frühmittelalters, der die Zusammensetzung der karolingischen Regierungen und den idealtypischen Verlauf karolingischer Reichsversammlungen festhielt, und zwarim zweiten Teil einer Schrift aus dem Jahr 882, die heute den Titel "de ordine palatii" trägt (dazu unten mehr).
Er wurde noch zu Lebzeiten Karls des Großen geboren (zwischen 800 und 810) undlernte unter dessen Sohn Ludwig (dem Frommen) in den zwanziger Jahren des 9. Jahrhunderts auch die Kirchen- und Regierungspolitik und ihre Prozeduren am königlichen Hofe genauestens kennen. Dabei hat er höchstwahrscheinlich Ludwig auch zu mehreren Veranstaltungen in Ingelheim begleitet.
Unter Ludwigs Sohn Karl (dem Kahlen), westfränkischer König 843-877, wurde Hinkmar 845 Erzbischof von Reims und fungierte lange Zeit als sein Ratgeber, ohne je ein Amt am Hof bekleidet zu haben. Sein Vorgänger in Reims, Ebo, war zum Rücktritt gezwungen worden. Das ist übrigens derselbe Ebo, den Ermoldus Nigellus als Missionar der Dänen und Auslöser für den Taufwunsch des Dänenkönigs Heriold rühmte und der (oder sein Umfeld) wahrscheinlich die angeblich Bischofssynode von 840 in Ingelheim fälschte.
Von Hinkmar sind ca. 38 Schriften erhalten, darunter auch seine Fortsetzung der Jahrbücher des Klosters St. Bertin, die sog. Annales Bertiniani. Deren Quellenwert charakterisierte Schrörs (1884) so: "Als erster Ratgeber des Königs und bei allen wichtigen Staatsgeschäften beteiligt, durchschaute er wie kein anderer die Gründe und Ziele der Politik" (S. 456). Hinkmar war ein Mann mit langer politischer Erfahrung.
Die jüngsten Karlsbiographien beziehen Hinkmars Denkschrift zwar ausführlich in ihre Darstellung des Königshofes, der Regierung, ein; McKitterick attestiert dem von ihm beschriebenen Ablauf der Reichsversammlungen sogar eine "ziemliche Detailgenauigkeit" (S. 136), und Weinfurter bezeichnet die Überlieferung von Hinkmars Text als einen "außerordentlichen Glücksumstand" (S. 144).
Aber welche Konsequenzen solche personalen Zusammensetzungen und Tagungsabläufe für den Raumbedarf in einer Pfalz haben, darauf ging keiner dieser Autoren ein, ja, soweit ich sehe, ist seine Darstellung noch nie unter diesem Aspekt interpretiert worden.
Zu seiner Schrift
Den heutigen Titel seiner Denkschrift sollte man mit Über ordentliches Regieren übersetzen, weil Hinkmar mit ordine die richtige, die gute religiös-politische Ordnung meinte, und mit palatii keinen Gebäudekomplex, sondern die Institution Palast im Sinne von Regierung, Hof. In diesem übertragenen Sinn wurde dieser Begriff oft - nicht nur bei Hinkmar, bei ihm aber fast immer- schon seit der Spätantike verwendet, nicht selten in spätrömisch-byzantinischer Tradition auch als "sacrum palatium" - heiliger Hof genannt (schon seit dem letzten Drittel des 3. Jahrhunderts; Castritius, S. 17).
Zum Gebrauch des Begriffes "palatium" für Regierungsgebäude schreibt Hinkmar: "praetoria, quae nunc regia, usitatius palatia nominantur" - Regierungsgebäude (in klassisch-römischer Zeit eigentlich Statthaltersitze), die jetzt regia (von griechisch βασίλεια rückübersetzt) oder häufiger palatia genannt werden (cap. IV, Z 259). "Palatia" als Gebäude sind also für ihn eindeutig Regierungsgebäude, nicht etwa Königsunterkünfte.
Seine Schrift ist wahrscheinlich an die Bischöfe des westfränkischen Reiches und an den jungen (sechzehnjährigen) König Karlmann II. (Enkel Karls des Kahlen, *866, König 879-884) gerichtet, der vor sehr schwierigen innenpoitischen Problemen stand: Aufstände, Überfälle aus dem ostfränkischen Reich, religiöse Streitigkeiten über die Prädestinationslehre und immer wieder verheerende Normannenüberfälle. Sie wurde Ende des Jahres 882 verfasst und beschreibt das, was Hinkmar für vorbildliche Politik hielt, inhaltlich wie organisatorisch, denn in den Wirren des westfränkischen Reiches scheint nämlich diese Art von politischer Organisation und Willensbildung unter Karl und Ludwigs nicht mehr praktiziert worden zu sein, die der Bischof aus seiner Jugend und aus einer schriftlichen Quelle (Adalhard) und mündlicher Überlieferung sowie aus eigener Anschauung noch kannte.
Da "die Reichsversammlungen zweifelsohne einen Kernbestandteil karolingischer Herrschaftspraxis darstellen" (Eichler, S. 2 f.), wird man wohl in der Annahme nicht fehlgehen, dass ihre praktischen Bedürfnisse ebenso wie ihr Inszenierungscharakter (S. 4) beim Neubau von Pfalzgebäuden eine maßgebliche Rolle gespielt haben. Als seine wichtigste Quelle hebt Hinkmar die verloren gegangene Schrift eines Stiefvetters Karls des Großen hervor, Adalhard, Abt von Corbie und Corvey, der die Regentschaft für einen Sohn Karls (Pippin) und ein zweites Mal für dessen unmündigen Sohn Bernhard von Karl übertragen bekommen hatte und zweifellos das Leben am Königshof gleichfalls bestens kannte.
Man kann sich Hinkmars Schrift heute sowohl in Latein als auch in deutscher Übersetzung problemlos unter Hincmarus aus den digitalen Monumenta Germaniae historica (dmgh) laden und sich ein eigenes Urteil bilden.
Als Einleitung schrieb er an die Adressaten seiner Schrift:
"Wegen meines Lebensalters und der Erfahrung in diesem heiligen Stand habt ihr Jüngeren, gute und weise Männer, meine Wenigkeit gebeten, dass ich zur Unterrichtung dieses unseren jungen jetzigen Königs und zur Wiedererrichtung der Stellung und des Friedens der Kirche und des Reiches die [gute] kirchliche Ordnung und Organisation des königlichen Hofes im heiligen Palast aufzeige, wie ich sie gehört und gesehen habe. Denn ich war ja [schon] an den Kirchen- und Regierungsgeschäften beteiligt, als sie zur Zeit der Größe und Einheit des Reiches noch erfolgreich betrieben wurden, und ich habe die Ratschläge und die Überzeugung derjenigen [selbst noch] gehört, die die heilige Kirche in Heiligkeit und Gerechtigkeit geleitet haben, wie auch derjenigen, die die Stärke des Reichs in früherer Zeit glücklicher gestaltet haben. Ich habe durch deren Anleitung die Tradition ihrer Vorfahren gelernt und auch nach dem Heimgang des Herrn und Kaisers Ludwig [und] im Gehorsam gegenüber denjenigen, die für seine Söhne, damals unsere Könige, in Eintracht sich geplagt haben, auf meine persönliche Art mit vielen Reisen, mich mündlich und schriftlich darum bemüht."
Gute Organisation von Kirche und Staat - der "Eiferer für die Kirche" (Weber, S. 46) nennt beides immer in dieser Reihenfolge - , das lag ihm an Herzen. Früher hatte er sie noch selbst miterlebt, er hatte auch erzählt bekommen, hatte darüber gelesen - ja, er hat sich selbst darum bemüht. Über die Zustände zu seiner Zeit (882) ist er jedoch alles andere als glücklich. Seine Schrift ist also zwar eine Art idealisierender Rückblick, was aber nicht zu Zweifeln an der prinzipiellen Richtigkeit der berichteten Abläufe zwingt. Auch Eichler betont 2007 den Quellenwert von Hinkmars Beschreibungen der karolingischen Reichsversammlungen trotz aller Idealisierungen und trotz der Veränderungen im Laufe der Zeit, denen auch sie sicher unterworfen waren.
Auch die verlorene Schrift Adalhards, die Hinkmar nach eigenem Bekunden gelesen und abgeschrieben hat, wurde von einem erfahrenen Politiker unter Karl geschrieben, sodass auch an dessen Glaubwürdigkeit kaum zu zweifeln ist.
Die Regierungen unter Karl und Ludwig
Sie bestanden nach Hinkmar aus folgenden Beratern, die man mit heutigen Ressortministern vergleichen kann:
- dem Apocrisiarius (ein byzantinischer Begriff für einen hohen Kleriker mit der Aufsicht über die gesamte Kirche, im Frankenreich auch Capellanoder Hüter des Palastes genannt)
- dem Camerarius (Kämmerer) (diese beiden waren durch ihre Ämter ständige Teilnehmer der Beraterversammlungen (cap. VI, S. 88).
Sodann...
- dem Camerarius, der der Königin unterstellt war und die Vorräte und Einkünfte zu verwalten hatte, darunter auch die jährlichen Abgaben der Vasallen, die "dona" (Geschenke), was eine sorgfältige Buchführung und gut gesicherte Tresore voraussetzte
- dem Comes palatii, Pfalzgraf, der für weltlichen Streit und Gerichtsurteile zuständig war
- dem Seneschall, zuständig für Versorgung und Personalaufsicht
- dem Buticularius, der Mundschenk
- dem Comes stabuli, der Stallgraf, zuständig für Reitpferde und Transporte
- dem Mansionarius, der die Quartierbeschaffung unterwegs zu organisieren hatte
- vier Jägern und einem Falkner, die wohl in Ingelheim selten dabei waren - kein Jagdgebiet
Auch weitere vertrauenswürdige Mitglieder der königlichen Regierung ("ministerialibus" - Ministeriale) wurden zu Beraterversammlungen zugelassen bzw. entsandt, um die Reichspolitik kennen zu lernen und ggf. kurzfristig nötige selbständige Entscheidungen treffen zu können. In ihre Kompetenz fielen vor allem Entscheidungen, die nicht das Reich insgesamt betrafen, sondern die Anliegen einzelner Personen.
Man muss also bei Aufenthalten des Hofes in Pfalzen oft mit einer erheblichen Zahl von Regierungsmitgliedern und ihrem vielfältigen Raumbedarf rechnen, die bei der Planung des neuen Ingelheimer Palatiums einzubeziehen war.
Die Reichsversammlungen
Generell unterschied Hinkmar zwischen zwei Versammlungsarten (zu Hinkmars Zeit nur noch "placitum" genannt, nicht mehr synodus oder conventus), die vom König einberufen wurden und in der Regel je einmal im Jahr stattgefunden haben:
a) Eine Generalversammlung ("generale placitum") im Sommer, bei der der Zustand des ganzen Königreiches oder der Reichspolitik ("status totius regni") für das laufende Jahr (gerechnet von Ostern zu Ostern) verbindlich festgelegt worden sei. Wir würden vielleicht heute sagen: das Regierungsprogramm für das laufende Jahr. Zu dieser Versammlung kamen alle Adligen ("maiores") zusammen, Kleriker ebenso wie Laien, und zwar die höheren Adligen ("seniores") in ihrer Rolle als Berater des Königs und die niederen ("minores"), um die Beschlüsse entgegenzunehmen. Manchmal wurden auch die letzteren als Sachverständige zu den Beratungen mit hinzu gezogen. Aber alle mussten auch deswegen kommen, um die "Geschenke", also ihre Jahressteuern für den König, abzugeben.
b) Zu einer zweiten Versammlung in den anderen Zeiten des Jahres wurden nur die Hochadligen (seniores) und bevorzugten Berater (praecipui consiliarii) eingeladen (Weber: "Hoftag"); dabei seien im kleineren Kreis die politischen Projekte für das folgende Jahr (ab Ostern) beraten worden. Als solche Berater seien, so Hinkmar, nur diejenigen Kleriker und Laien ausgewählt worden, die - gewiss idealisiert - in unverbrüchlicher und unbestechlicher Treue zu König und Reich gestanden hätten.
Ihr Ablauf
(nach Hinkmars Beschreibung im Kapitel VII, S. 90 ff., ausführlich bei Seyfarth S. 107 ff. und unverändert bei Eichler, Reichsversammlungen S. 90 f.):
Die Teilnehmer beider Arten von Versammlungen bekamen bei ihrem Eintreffen eine schriftliche Aufstellung der zu entscheidenden Probleme, untergliedert in Tagesordnungspunkte (damals "Kapitel" genannt; siehe Kapitularien) ausgehändigt und hatten nun meistens ein bis drei Tage Zeit, um ohne Kontakt zur Öffentlichkeit, also in Klausur, darüber zu beraten und durch Boten bei den Regierungsmitgliedern nachzufragen, bis die Punkte entscheidungsreif waren und dem König zur Entscheidung übermittelt wurden. Seine Entscheidungen übernahm man und bestätigte sie in einer Vollversammlung.
Seyfahrt schließt aus den Formulierungen Hinkmars:
"Das Volk nahm an dem allem keinen Anteil, nur den Beschluß, ob man Krieg führen sollte oder nicht, scheint man dem Volke stets zur öffentlichen Sanktion noch einmal vorgelegt zu haben. Die anderen Beschlüsse wurden zu Schluß feierlich verkündigt. Man öffnete dann wohl die Tore der eigentlichen Pfalz und ließ, soweit dies möglich war, das Volk in den Versammlungsraum herein." (S. 113)
Vorbemerkung
Aufgrund der Gesamterscheinung und Anordnung der Ingelheimer Pfalz-Gebäude geht man allgemein von einer Gesamtplanung aus, auch wenn Einhard ausdrücklich festhält, dass die Bauten unter Karl nur begonnen, d.h. wohl erst unter seinem Sohn Ludwig vollendet wurden. Es spricht bisher nichts dafür, dass die Bauten erst nach und nach auf der Basis sich wandelnder Bedürfnisse hinzugebaut wurden.
Ihre Planung und der Baubeginn fanden also unter Karl statt, so dass diese Pfalzanlage architektonisch den Zustand regierungspolitischen Denkens und Handelns zur Zeit Karls des Großen widerspiegelt. Dazu passt, dass bis 791 der erste Verfasser der Annales regni Francorem die Beratung des Königs durch die Franci (also in Reichsversammlungen) hervorhebt, während der Fortsetzer die Rolle des Königs stärker betont (Zotz in Staab S. 85).
Beweise für die Richtigkeit der folgenden Überlegungen über den Zusammenhang von politischen Prozeduren, ihrem Raumbedarf und den vorhandenen Gebäuden gibt es bislang nicht.
1. Der Empfang der Hochadligen und die Aushändigung der Kapitularien könnte in der Pfeilerhalle des Halbkreisbaues stattgefunden haben. In den sehr großen zweistöckigen Räumen des Halbkreisbaues könnten die Adligen – sozusagen in Arbeitsgruppen – vertraulich mit ihren Beratern und wegen des fließenden Wassers in den Türmen auch durchaus in Klausur getagt haben. Sie könnten durch Boten über den Säulengang, von dem aus die Räume von innen her zu betreten waren, untereinander und mit den Ministerialen der königlichen Regierung kommuniziert haben, die ihre Diensträume im Nordflügel gehabt haben können. Die niederen Adligen und natürlich das meiste "Volk" mussten draußen im freien Feld warten, wo wohl auch die Zelte der Hochadligen standen, wie das ein unbekannter Dichter von Paderborn erwähnt (Karolus Magnus et Leo papa, MGH Poetae Lat. I., p. 377).
Bei schönem Wetter, so fügt auch Hinkmar hinzu, benutzte man abgetrennte Bereiche im Freien für solche vertraulichen Verhandlungen – im Innenhof des Ingelheimer Halbkreisbaues oder außerhalb? An beiden Orten (drinnen wie draußen) konnten die geistlichen und weltlichen Großen - jedenfalls nach Hinkmar - in zwei voneinander getrennte "Kurien" tagen. Die beiden Flügel des Halbkreisbaues könnten diese Zweiteilung widerspiegeln. Ob die karolingischen Versammlungen in aller Regel einen gemischt weltlich-geistlichen Charakter hatten oder ob es auch solche nur eines Themenbereiches gegeben hat, ist in der Forschung umstritten. Eichler (Reichsversammlungen S. 34 f.) glaubt nicht an "institutionell verfestigte Strukturen".
2. Währenddessen war der König ... damit beschäftigt, die "Geschenke" entgegenzunehmen, die Vornehmen zu begrüßen, mit den selteneren Gästen Gespräche zu führen, den Älteren Trost zu spenden, mit den Jüngeren Spaß zu haben und dergleichen sowohl im geistlichen als auch im weltlichen Bereich; doch so, daß er stets, wenn dies der Wunsch der abgesonderten Berater war, zu ihnen kommen und auch, solange er wollte, bei ihnen ausharren konnte. (Übersetzung Schieffer/Geißler)
Als Orte solcher Tätigkeiten des Königs kann man sich in Ingelheim vorstellen:
a) Geschenke entgegenzunehmen – vielleicht in einem Amtszimmer im Nordflügel. Dort könnten die „Geschenke“ auch registriert worden sein, vielleicht nicht bei allen Personen durch den König selbst, sondern durch Ministeriale. Diese "Geschenke" waren die "dona annualia" – Jahresgeschenke, nach Hinkmar Steuern: "vectigalia, quae nobis annua dona vocantur" – Steuern, die man uns gegenüber als jährliche Geschenke bezeichnet (Quaternionen 868). Zu diesem Zweck müsste es eine Registratur mit Skriptorium (dieses auch für andere Aufgaben) und einen Tresorraum gegeben haben, wohl auch im Nordflügel. Vielleicht diente auch die religiös geheiligte Trikonchienkapelle als sicherer Tresor.
b) Die Vornehmen zu begrüßen – wahrscheinlich in der hohen Pfeilerhalle im Halbkreisbau, durch die die Adligen, von ihren Lagerplätzen und denen ihres Gefolges kommend, möglicherweise den Palast betraten.
c) Mit den selteneren Gästen Gespräche zu führen, den Älteren Trost zu spenden – in Empfangsräumen des Nordflügels und auf seinen Terrassenvorbauten mit Blick ins Rheintal
d) Mit den Jüngeren Spaß zu haben – je nachdem, worin der Spaß bestand, ein Ausreiten hinunter zum Rhein oder gesellige Spiele oder Mahlzeiten – aber wo? Vielleicht auch im Nordflügel in einem repräsentativen Speisesaal, der ebenfalls mit Frischwasser versorgt war? - Die Teilnehmer der Reichsversammlung sollten jedoch im Allgemeinen ihre Verpflegung selbst mitbringen (s. Eichler S. 85 mit Anm. 361), was durchaus als zumutbar erscheint, da bei Heereszügen nach Karls Anordnung Proviant für drei Monate auf Ochsenkarren mitgenommen werden musste.
e) Zu ihnen kommen – der Gang vom Nordflügel zu den Räumen des Halbkreisbaues war für den König, falls gewünscht, jederzeit möglich.
f) Auch die obligatorischen Fragen des Königs nach Neuigkeiten aus den Reichsteilen, die Hinkmar erwähnt, könnten gut in Empfangsräumen des Nordflügels abgelaufen sein.
3. Nach Beendigung der Gruppenberatungen wurden dem König schriftliche Stellungnahmen vorgelegt, wie Seyfahrt (S. 113) sie charakterisiert, und danach wurden ...
"entweder in Anwesenheit des Königs oder auch in seiner Abwesenheit … aus dem Kreis der zuvor genannten Großen in gewohnter Weise die Geistlichen und die Laien jeweils an ihren gebührenden Platz gerufen, wozu man entsprechend ehrenvolle Sitze (subsellis … honorificabiliter praeparatis) vorbereitet hatte."
Diese ratifizierende "Vollversammlung", wie man sie vielleicht nach heutigen Gepflogenheiten bezeichnen könnte, kann natürlich nur in der Aula regia zusammengetreten sein, und zwar so, dass dort zwei Gruppen von Sitzmöglichkeiten (wohl Bänke) vorbereitet wurden, wo die Repräsentanten der beiden Kurien sorgfältig die ihrem Rang entsprechenden Plätze zugewiesen bekamen und sich wahrscheinlich wie im britischen Unterhaus gegenüber saßen.
Nach den Worten Hinkmars muss es auch Schlussversammlungen gegeben haben, an denen der König sich vertreten ließ, weil er Wichtigeres zu tun hatte. Wenn aber der König teilnahm, dann muss man sich ihn wohl als Präsidium auf seinem Reise-Klappthron in der erhöhten Apsis der Aula vorstellen, umgeben von seinen persönlichen Beratern.
Über das weitere Verfahren berichtet Hinkmar nichts, wohl weil es eine allseits bekannte Selbstverständlichkeit war. Seyfahrt (S. 114, Anm. 2) erwähnt jedoch eine Bemerkung aus einem Formelbuch von St. Denis (um 800), dass nach den Beschlüssen der Palast auch für das restliche Volkgeöffnet wurde, das dann hineinströmte. Diese großartigen Regierungsgebäude aus der Nähe besichtigen zu dürfen, muss schon sehr attraktiv gewesen sein. Außerdem wurden dann auch die Texte von allgemeiner Bedeutung für alle verlesen, ob im Freien oder in der Aula regia, ist nicht überliefert.
Bisweilen war ein Verfahren des Königsgerichtesmit der Reichsversammlung verbunden, wie zum Beispiel 788 der Tassilo-Prozess. König und Adelsversammlung fungierten dabei als Gericht und tagten sicher auch in einer Königshalle. Solche Verfahren aus der Zeit Ludwigs des Frommen stellte Eichler, (Reichsversammlungen S. 97-102), zusammen.
Außerdem bildeten Reichsversammlungen die Sammelpunkte für Kriegsbeschlüsse und Kriegszüge. Ohne Feldzug diente die Heeresversammlung zur Musterung des Aufgebotes durch den König (Seyfahrt, S. 117/118). Diese Prozeduren fanden natürlich auf freiem Felde statt, nicht in Gebäuden. Es muss also bei den Gebäuden auch ein großes Freigelände für mehrere Hundert Krieger, ihre Zelte, Wagen und Tiere (!) gegeben haben und dieses war im Osten der Pfalzgebäude zweifellos vorhanden (s. Flurname "Herstel").
Diese gedankliche Zuordnung von Räumen des Ingelheimer Palatiums für die von Hinkmar beschriebenen Regierungen und Reichsversammlungen ergibt, wie ich meine, ein plausibles Gesamtkonzept für die Baukonzeption von Karls Ingelheimer Palatium (Pfalz im engeren Sinn). Ihre Gebäude bildeten, so gesehen, eine Art Regierungsviertel für "Gesetzgebung, Rechtsprechung und Regierung des Reiches", wie Eichler (Reichsversammlungen S. 87) die Funktionen der Reichsversammlungen mit modernen Begriffen charakterisiert.
Darin ist bisher nur die Nutzung zweier wahrscheinlicher Gebäude ausgespart worden, die vermutete Vorhalle nördlich der Aula und ein Gebäude unter der späteren Saalkirche. Während über das letztere wegen der geringe Fundamentreste nicht einmal Vermutungen angestellt werden können, war die Vorhalle derjenige Bereich, der am längsten mit Gebäuden überbaut war, der von den Augustiner-Chorherren seit dem 14. Jahrhundert und nach ihnen vom Kurpfälzer Verwalter bewohnt wurde, auch noch als die ruinösen Reste der meisten Teile des nach dem Ende des Reisekönigtums offenbar nicht mehr benutzten Nordflügels und der Halbkreisbau vom anwachsenden Bodenniveau verschluckt und in Vergessenheit geraten waren.
In den Räumen des Vorhallenbereichs zeigten die Augustiner des 14. und 15. Jahrhunderts den Raum ihrer Bibliothek, in denen das Geburtsbett Karls gestanden habe und wo er das Glaubensschwert von einem Engel empfangen habe. Könnten diese Sagen aus der Stauferzeit ein spätes Echo des Tatbestandes sein, das sich dort tatsächlich königliche Wohnräume befunden haben? Ausreichender Platz für sie wäre dort freilich nicht gewesen.
Außerdem verlief der andere Zweig der Wasserleitung durch den Nordflügel, nicht durch dieses Gebäude nördlich der Aula regia, obwohl man sich diese Quellwasserversorgung natürlich bevorzugt auch für die königliche Tafel vorstellen möchte. Muss man stattdessen an einen prächtigen Regierungs-Speisesaal über dem Durchfluss der Wasserleitung im Nordflügel denken? Ein allgemeines Festmahl von König, Gefolge und den versammelten Adligen kann hingegen aus Platzgründen nur in der Aula regia stattgefunden haben, wie wahrscheinlich auch die Osterfestessen unter den Ottonen.
Wenn man jedoch den Bereich dieses heute versuchsweise "Vorhalle" genannten Gebäudes als unzureichend für königlichen Wohnräume einschätzt, dann kommt man nicht umhin, sich nach einem anderen Standort für die königlichen Wohngebäude umzusehen. Auch in Aachen ist diese Frage nach den Wohnräumen der königlichen Familie noch nicht beantwortet (Ley in Aachen, S. 72). In Frage kommt dafür das große und niemals bäuerlich besiedelte Gelände der ehemaligen Jesuitenmission nördlich der Remigiuskirche, das sich heute das Haus St. Martin und die Familien Boehringer/von Baumbach teilen, und das große Hanggelände des Emmerlingschen Parkes. Weiteren Aufschluss könnten nur Ausgrabungen in diesen Bereichen bringen.
Weinfurter weist, Hinkmar folgend, auf weitere Personen (mit - ungenanntem - Raumbedarf!) hin:
"Doch am Hof hielten sich noch viel mehr Personen auf. Zu nennen sind die militärischen Elitetruppen, die stets einsatzbereiten Königsvasallen, die Lohn und Unterhalt in verschiedenster Weise erhielten und von Adalhard als Erste unter den Anwesenden am Hof erwähnt wurden. Dann gab es die Gruppe der ‚Schüler‘ (discipuli), junge Adlige, die bei den Amtsinhabern gewissermaßen in die Lehre gingen und Schulen (scholae) bildeten. Die dritte Gruppe am Hofbestand aus ‚den Dienern und Vasallen der höheren und geringeren Leute‘, je nachdem, wie viele sich ein jeder leisten konnte." (S. 146)
Natürlich muss es bei der Remigiuskirche schon vor dem Bau des Palastes Verwaltungsgebäude gegeben haben und sie dürften auch danach weiter bestanden haben und genutzt worden sein. Für den Tassilo-Prozess des Jahres 788 zum Beispiel ist es ja zweifelhaft, wie weit der Bau der neuen Pfalz-Gebäude unter Karl schon gediehen war. Falls man damals also die Aula regia noch nicht benutzen konnte, dann muss man sich diese Reichsversammlung mit dem Prozess noch in – vielleicht als veraltet empfundenen – Gebäuden des Königshofes bei der Remigiuskirche vorstellen.
Am Beispiel des Königshofes in Annappes (Nordfrankreich) wird vielfach die Bauausstattung eines königlichen Fiscus (nicht eines Palatiums!) dargestellt - viele Quellen gibt es nicht dazu:
"Jeder Fiskalbezirk bildete einen zusammenhängenden Komplex, und schon in seinem Äußeren, in den Baulichkeiten, kommt die Größe des Betriebes zum Ausdruck. Das vornehmste Gebäude ist ein Steinhaus, aus mehreren Kammern bestehend, mit einer rings umlaufenden Veranda (solariis) und einem Kellergeschosse versehen. Es war wohl zur vorübergehenden Aufnahme des Königs geeignet und wurde auf dessen oder seiner Gemahlin Befehl dem Königsboten zur Verfügung gestellt. Säulengänge dienten zum Schmuck und mögen dem Ganzen einen ansprechenden Anblick gewährt haben. Die geringeren Wirtschaftsgebäude waren aus Holz gezimmert und wohl nach der Größe des Fiskalbezirkes an Zahl und Ausdehnung wechselnd. Da waren die Frauenarbeitshäuser (genitia) mit mehreren Kammern, Ställe, Küche, Kelter, Brau- und Backhäuser, Vorratshäuser wie Speicher und Scheuern. Eine Mühle mag bei jedem Gute gewesen sein und viele kleine Holzhäuser, um den unmittelbaren Knechten des Gutes Unterkunft zu gewähren. Und der ganze Gebäudekomplex sollte in Ordnung und wohlbewacht sein, weshalb er mit einem Zaun umgeben war. So ward ein großer Hof gebildet, zu dem ein Tor (vielleicht aus Stein) einen Zugang eröffnete. Im fiscus Asnapium finden wir noch einen kleinen Hof, der ebenfalls umzäumt und mit Bäumen bepflanzt war." (Steinitz, 1911, S. 350)
Der Fiscus Ingelheim dürfte größer gewesen sein und entsprechend auch größere und mehr Gebäude besessen haben.
Man darf jedenfalls bei der Vorstellung von der Ingelheimer "Pfalz" seinen Blick nicht auf die Gebäude der heute so genannten „Kaiserpfalz“, wie sie das Modell zeigt, beschränken. Denn das stellt höchstwahrscheinlich nur die neugebauten Regierungsgebäude Karls dar.
Zur architektonischen Grundausstattung einer Pfalz muss demnach, wenn man Hinkmars Darstellung ernst nimmt, viel mehr als Königshalle, Königsunterkunft und Pfalzkapelle gehört haben, nämlich auch...
- umfangreiche und zahlreiche Tagungsräume für die Gruppen der Reichsversammlungen
- Regierungsgebäude für viele Personen und viele Verwaltungsfunktionen: Apocrisiar (für die geistliche Verwaltung), Pfalzgraf (für die Rechtsprechung), Seneschall, Mundschenk, Stallgraf, Quartiermeister, vier Oberjäger, Falkner, Türhüter, Säckler (für die "Geschenke"), Zahlmeister, Kellermeister und deren Diener und Helfer (s. Hinkmar, cap. V, Z. 275 ff.)
- Verwaltungsgebäude für das Königsland (die eigentliche Curtis regia)
- und natürlich viel freier Platz für Versammlungen im Freien, für die Heerschau und für die Zelte und Tiere der Besucher
Wenn man andererseits durch weitere Ausgrabungsergebnisse zu dem Schluss kommen sollte, dass Halbkreisbau oder Nordflügel doch der Königsunterkunft im weitesten Sinne gedient hätten, dann müsste eine andere Antwort auf die Frage gefunden werden, wo in Ingelheim dann das Regierungshandeln und die Gruppenbesprechungen der Reichsversammlungen stattfanden.
Jedenfalls hatte die Ingelheimer "Pfalz" (im weiteren Sinne) für zweieinhalb Jahrhunderte Räume und Platz für all diese Bedürfnisse zu bieten, bis die Zeit des Reisekönigtums zu Ende ging und anschließend die Erinnerung an dessen Notwendigkeiten und Gepflogenheiten verschwand.
Leider wissen wir über die spätere Nutzung der Ingelheimer Palastgebäude unter den Ottonen und frühen Saliern im 10. und 11. Jahrhundert, das heißt in der Epoche der intensivsten Nutzung (!) der Ingelheimer Möglichkeiten, noch weniger als aus der karolingischen Zeit.
Die Chronisten rühmen zwar mehrfach glänzende Osterfeste und Hoftage, lassen aber völlig offen, wo sie stattfanden und wie sie abliefen. Ausnahmen bilden nur die Synoden in einer Kirche (St. Remigius) und die Erzählung Ekkehards von St. Gallen über seine Belohnung als Chorleiter bei einer Ostermesse im Jahre 1030.
Seyfahrt (S. 125) berichtet zusammenfassend, dass aus den "conventus" und "placita" der karolingischen Epoche nun "colloquia", also Unterredungen, Besprechungen, geworden seien. Konnten spätere Könige keine Tagesordnungen mehr für Klausurtagungen vorschreiben, so dass man die Beratungen lieber unverfänglich als "Besprechungen" bezeichnete, sozusagen auf gleicher Augenhöhe? Konkrete Einzelheiten hat er aber nicht gefunden. Muss man sich nun einen andersartigen Raumbedarf vorstellen? Fanden keine Klausursitzungen mehr statt, so dass man auf die Reparatur der unterbrochenen Wasserleitung von Heidesheim zu den Türmen verzichten konnte? Diese Nutzungshypothese könnte eine plausible Antwort auf die Frage geben, warum die teure unterirdische Wasserleitung nur relativ kurz in karolingischer Zeit benutzt wurde.
Thietmar von Merseburg schreibt über die Ingelheimer Osterfestfeier Heinrichs II. im Jahre 1017: "Palmarum (14. April) feierte der König in Mainz und in Ingelheim Ostern (21. April), und in dieser Gegend gab es niemals zuvor eine ehrenvollere und machtvollere Osterfeier. Und weil wegen der Größe dieser Feier sehr wichtige Probleme nicht zu Ende behandelt werden konnten, wurde eine [weitere] Reichsversammlung nach Aachen anberaumt."
Welche Handlungen und welcher Raumbedarf verbergen sich hinter der Charakterisierung als ehrenvoll (honorifice), machtvoll (potestative) und Feier(lichkeit) (solempnitatem)? Sind darunter eher Manifestationen von majestätischer Größe, z. B. Reiterspiele, als politische Tagungen zu verstehen, und reichten dafür die mittlerweile renovierten, aber veralteten Palastgebäude Karls des Großen (welche?) überhaupt noch aus? Es fehlen Quellen, um diese Fragen beantworten zu können.
Jedenfalls ließ sich damals Ostern (mit einer Reichsversammlung bzw. einem "Hoftag") offenbar besser in Ingelheim feiern als in Mainz. Lag es nur am großen Freigelände für die vielen Besucher oder auch an hier vorhandenen Gebäuden, die es in Mainz (noch) nicht gab? Adlige, die häufiger nach Ingelheim mussten und nicht immer auf Zelte angewiesen sein wollten, werden nun mit eigenen Gebäuden in Ingelheim erwähnt, wie schon früher unter Karl dem Großen in Aachen. Ein Beispiel: Im Jahre 994 schenkte Otto III. dem Markgrafen Hugo von Tuscien (Toskana!) wegen der häufigen und hilfsbereiten Beherbergung seines Vaters (Ottos II.), seiner Mutter Theophanu und seiner selbst einen Bauplatz für ein Haus in Ingelheim ("infra curtem et palatium nostrum Inglinheim vocatum" – unterhalb unseres Königshofes und Palastes, der Ingelheim genannt wird).
Wo lagen solche Häuser in Ingelheim?
Es gibt noch viel zu forschen zur Ingelheimer Pfalz im weiteren und vollständigen Sinne.
Gs, erstmals: 16.12.14; Stand: 06.12.21