Autor und Fotos: Hartmut Geißler
nach: Karl Heinz Henn: Die Ortsbefestigung von Ober-Ingelheim (BIG 36, 1987).
Rauch, Die Kunstdenkmäler des Kreises Bingen, 1934,
Parzellenkatasterpläne von 1848, StA Ingelheim, Rep. II/418
Neueste Literatur: Hundhausen, Die Ober-Ingelheimer Ortsbefestigung, in "Ingelheim am Rhein" 2019, S. 314-325
Wann es zur Umwehrung des Reichsdorfes Ober-Ingelheim mit Mauern, Türmen und Toren gekommen ist, kann nicht genau festgestellt werden, da hierüber keinerlei Urkunden vorliegen...
und er vermutete:
Die Einwohner Ober-Ingelheims und Groß-Winternheims ... dürften in den Jahrzehnten nach 1254 (dem Ende der Stauferzeit; Gs) unter der Führung des ortsansässigen Adels mit dem Bau der beschriebenen Befestigungsanlagen begonnen haben. Sicher wurden diese im Laufe der Jahrhunderte immer wieder ergänzt und erneuert ...
Diese Vermutungen wurden im Großen und Ganzen bestätigt durch die Untersuchungen, die 2009 bis 2010 bei der Instandsetzung von Teilen der Ortsbefestigung durchgeführt wurden. Darüber berichtet Jutta Hundhausen in ihrem Beitrag in "Ingelheim am Rhein" von 2019. Sie zählte 16 Türme und fasste zusammen (S. 324/5):
"Die neu gewonnenen Daten und Baubefunde zum Uffhubtor und zum Ohrenbrücker Tor, zur Mauer bzw. dem Turm an der Bahnhofstraße und zur Befestigung an der Burgkirche konnten zwar nicht den Beginn des Mauerbaus ergründen, belegen aber eine größere Erneuerung und Modernisierung der Ortsbefestigung im 15. Jh.
Diese ‚Modernisierung' der Ortsbefestigung vor Ober-Ingelheim um die Mitte bzw. in der zweiten Hälfte des 15. Jhs. kann als Antwort auf die sich gravierend verändernde Waffentechnik dieser Zeit angesehen werden. Gerade die Verbreitung von Handfeuerwaffen wie der Hakenbüchse machte neue Schartenformen, wie die der Schlüsselscharte bzw. Kreuzschlüsselscharte erforderlich.
Mit dem Bau von Türmen, die mit steinernen Dächern vor Brand geschützt waren, wurde die Mauer zusätzlich bewehrt. Die Schützen konnten nun den Graben und die Mauern durch die vorgestellten Türme bestreichen. Typisch für diese Epoche ist die auch in Ober-Ingelheim anzutreffende Vielfalt von Schartenformen, die zum einen den Gebrauch der neuen Handfeuerwaffen neben der üblichen Armbrust zuließen und zum anderen ein Herantasten an geeignete Formen für diese neue Waffengattung darstellt.
Auch die noch nicht genauer untersuchten Rundtürme in Ober-Ingelheim datieren vermutlich in die zweite Hälfte des 15. Jhs. ...
Aufgrund der oben erwähnten, bauhistorisch genauer untersuchten Elemente der Ortsbefestigung kann man aber schon jetzt auf ein regelrechtes Bau-Programm in der Spätgotik schließen, das einer allgemeinen Tendenz zur repräsentativen Aufwertung und wehrtechnischen Anpassung der Wehrmauern und der Tore entspricht.
Nur wenig später brachte der fortschreitende Wandel in der Waffentechnik die Abkehr von der spätmittelalterlichen Ausbildung einer Befestigung mit schlanken und oft hohen Türmen hin zu niedrigen und starken Bollwerken, die auch Geschützen standhalten konnten.
Der Ausbau der Ober-Ingelheimer Befestigung steht damit am Ende der Entwicklung des mittelalterlichen Mauerbaus und stellt gleichzeitig ihren letzten, auch auf Repräsentanz ausgebildeten Höhepunkt dar. Die Erneuerung der Burgkirche und die Anpassung der Ortsbefestigung an die neuen Feuerwaffen waren für Ober-Ingelheim im 15. Jh. gleich zwei bedeutende und große Bauaufgaben, die dem Ort noch heute sein unverwechselbares Bild verleihen."
a) Man stellt sich normalerweise unter der Ober-Ingelheimer Ortsbefestigung etwas Burgähnliches vor, das zum Schutz und zur Verteidigung geschaffen wurde, und lässt dabei ihren Funktionswandel im Laufe der Zeit unberücksichtigt. Die Verteidigungsfunktion solcher Ortsmauern, Türme und Tore ging nämlich durch den waffentechnischen Wandel im Verlauf des 16. Jahrhundert verloren und diejenigen Teile der ursprünglichen Befestigung, die weiter benutzt wurden, waren die Gräben im Norden und Süden als notwendige Flutgräben, aber auch als landwirtschaftliche Nutzflächen, auch als Bleichen, die Türme als Wohnungen und Tore als Zoll- und Zehnterfassungsstellen. Dieser Aspekt sollte nicht vergessen werden.
Die Tore ("Pforten") waren deshalb mehr als reine Tore (wie Hoftore) mit Sicherungstürmen, wie es der heutige Rest des Uffhubtores zu zeigen scheint. Das beweisen die Grundstücksgrößen auf den Katasterplänen, das Beispiel des 11.000-Mägde-Turmes in Elsheim sowie eine ganze Reihe von schriftlichen Erwähnungen. Sie enthielten nämlich Torhäuser mit einem gewissen Raumbedarf auf der Ortsseite, in deren Obergeschoss Torschreiber amtierten und vielleicht auch wohnten. Das zeigt z. B. der Grundriss des Stiegelgässer Tores (s.u.) und die Zeichnung des Rinderbachertores von 1814. Auch für die Pforten von Groß-Winternheim wird überliefert, dass über ihnen Wohnungen waren.
Bis zur französischen Zeit um 1800 dienten diese Torhäuser zur Kontrolle von Wagenladungen auf zu verzollende Ladung, ebenso wie zur Registrierung von Weinmengen, um im Herbst den geschuldeten Weinzehnt errechnen zu können (interessante Einzelheiten aus 1773 beim Rinderbacher Tor).
Die alte Reichszollerhebung an der wichtigen Straßenverbindung Mainz-Kreuznach könnte der Grund dafür gewesen sein, dass die an sich unbedeutende Siedlung Elsheim mit zum Ingelheimer (Reichs-)Grund und damit zur der Pfälzer Reichspfandschaft gehörte. Die Zollstelle Elsheim wird vom Oppenheimer Landschreiber Reutlinger in seinem Bericht von 1587 über die Pfälzer Rechte unter den Zollstellen im Ingelheimer Grund (Frei-Weinheim, Nieder- und Ober-Ingelheim und Elsheim) ausdrücklich erwähnt (BIG 59, S. 117, Blatt 187v).
Als in der französischen Zeit das Steuer- und Zollsystem völlig umgewandelt wurde, konnten die früheren Torschreiber-Wohnungen an (arme) Bürger vermietet werden. Gut bezeugt ist das für das Stiegelgässer Tor, aber auch für das (untere) Altengässer Tor und als Gefängnis für zwangsweisen Aufenthalt das Rinderbacher Tor.
Da sie aber den Verkehr behinderten, wurden sie im 19. Jahrhundert - zumindest weitgehend - abgerissen. Beim Stiegelgässer Tor blieben Teile der mächtigen Türme stehen, das alte Rinderbacher Tor jedoch verschwand ganz und wurde durch eine neues Torhaus ersetzt. Die Außenfront des Uffhubtores konnte stehen bleiben, da die Gasse hindurch (noch) nicht als moderne Straße gebraucht wurde.
b) Aus dem Vergleich mit dem Elsheimer Tor kann man eine weitere Erkenntnis gewinnen: Es ist nicht nötig, sich die beiden Ober-Ingelheimer Selztore, das Ohrenbrücker und das untere Altegässer, in eine Ortsbefestigung eingebunden vorzustellen, denn das Elsheimer war es auch nicht. Es gab keinen Wehrmauerring um Elsheim, das Tor stand sozusagen frei an einer Furt, allein zur (Zoll-)Kontrolle an diesem wichtigen Straßenübergang und wohl auch zum Schutz der Mühle daneben. Umfahren konnte man es wegen der sumpfigen Selzniederung sowie wegen der Selz und des Mühlgrabens ebenso wenig wie die Selztore in Ober-Ingelheim.
c) Für den normalen Fußgängerverkehr gab es wahrscheinlich neben allen Toren eine Schlupfpforte, auch "Mannloch" genannt, durch die man die Ortsmauer durchqueren konnte, ohne dass das große Tor geöffnet werden musste. Mauerreste einer solchen Schlupfpforte glaubt Jutta Hundhausen neben dem Uffhubtor gefunden zu haben. Die Schlupfpforte am Stiegelgässer Tor war offenbar nur über eine "Stiegel" (weiblich!) zu erreichen, also über eine Stiege, Treppe. Diese ungewöhnlich Art gab der Gasse und dem Tor ihren Namen.
Rauch gibt an, dass der von ihm bearbeitete und 1934 veröffentlichte Plan auf einen Plan zurückgehe, der etwa 1800 entstanden sei und in der "Bürgermeisterei" liege. Er hat sich bisher nicht finden lassen, sodass man das Ausmaß seiner Bearbeitung nicht überprüfen kann. Vielleicht war es ein Übersichtsplan für das französische Kataster von 1812, den er 1934 nur nicht nennen wollte. Darauf weisen jedenfalls einige ungewöhnliche Straßennamen hin (z. B. Hammengasse mit n), die um 1800 in Gebrauch waren.
Besonders wichtig war für Rauch, den ersten systematischen Ausgräber der Pfalzanlage in Nieder-Ingelheim, offenbar die burgartige Befestigung Ober-Ingelheims, deren Mauern, Tore und Türme er mit kräftigen schwarzen Linien markierte. Das entsprach völlig dem Zeitgeist des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, als man sich besonders für Burgen interessierte, weniger für Wirtschaftsgeschichte, Zollgeschichte oder Mühlengeschichte. Man glaubte auch damals in Ober-Ingelheim, dass die Bolander Zollburg neben der "Burgkirche" gestanden habe.
Den noch vorhandenen oder von ihm vermuteten Wehrgraben machte Rauch durch eine dünne Linie vor der Mauer kenntlich. Dessen vermuteter Verlauf für das Stück unten neben dem Maßstab, parallel zur gebogenen unteren Altengasse, lässt sich aber anhand der Katasterpläne von 1812 und 1848 nicht bestätigen. Möglicherweise wurde eine dortige Flurgrenze irrtümlich als Graben interpretiert.
Richtig vermutet hat Rauch die Fortsetzung des Grabens vom Stiegelgässer Tor hinab zum Mühlgraben, nicht möglich wiederum ist eine gestrichelte Linie, die er von dort mitten durch die größtenteils nicht eingezeichneten Gebäude der Mühlenhofreite eingezeichnet hat. Sie wurde in den letzten Jahren manchmal als Palisaden gedeutet.
Insgesamt zeichnete Rauch viel weniger Gebäude ein, als in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts tatsächlich vorhanden waren, nämlich nur Wohngebäude, nicht die größere Zahl der Wirtschaftsgebäude. Dadurch gewinnt man den verfälschenden Eindruck, die Flächen Ober-Ingelheims seien um 1800 noch sehr dünn bebaut gewesen. Dies verfälscht insbesondere die Vorstellung des großen Mühlenanwesens der ehemaligen Klostermühle, deren eigentliches Mühlengebäude auf der Insel zwischen Mühlgraben und Selz stand (von Rauch ausgelassen) und die dazugehörenden Wohn- und Wirtschaftsgebäude direkt am Mühlgraben (von Rauch bis auf ein Gebäude oder zwei direkt am Tor ausgelassen), sodass in diesem Bereich gar keine zusätzliche Befestigung durch Mauer, Graben oder Palisaden möglich war.
Man darf also diesen von Rauch bearbeiteten Plan, der in der Vergangenheit unbedenklich für viele Abbildungen und auch das Tastmodell übernommen wurde, nur mit Vorsicht benutzen;
Da die französischen Katasterkarten des innerörtlichen Bereichs von 1812 immer noch verschwunden sind, kann man nicht verlässlich dokumentieren, wie Ober-Ingelheim um 1800 wirklich ausgesehen hat.
Ein Gebück im unteren Ochsenborn, das bisweilen zusätzlich eingezeichnet wurde, lässt sich bisher ebenfalls nicht nachweisen; es ist aus verschiedenen Gründen sehr unwahrscheinlich. Möglich erscheint nach dem Katasterplan von 1848 hingegen eine Fortsetzung der Wehrmauer vom oberen Altegässer Tor quer durch den oberen Ochsenborn bis zum Klostergelände.
Die folgende Lageskizze Rauchs, ebenfalls aus dem Buch von 1934, zeigt die noch vorhandene bzw. erschlossene Kirchenbefestigung rings um die "Burgkirche", die erst ab 1940 so hieß. Diese "Kirchenburg", wie man die Anlage eigentlich nennen müsste (s. , umgeben mit einem Doppelmauersystem und eigenem Graben (s. "Grabengasse" und Schießgraben), scheint der älteste Teil der Ortsumwehrung gewesen zu sein.
An ihren beiden oberen Ecken stehen die beiden höchsten Türme, ganz anders als die Vorlagetürme der Orts-Ringmauer gestaltet: der "Malakoffturm" und der früher offenbar namenlose und heute behelfsweise sogenannte "Nordturm". Beide gehörten nicht zur Wehrmauer um den Ort, die erst später daran anschloss, sondern waren Bestandteile der Kirchenburgmauern. Diese Darstellung Rauchs hat sich bestätigt. Vom Seufzerpfad aus kann man gut erkennen, wie die Ortsmauer später an den Nordturm angeschlossen wurde.
Rauch hat die äußere, die Zwingermauer, von der ein Teil oben rechts noch vorhanden ist (s. auch Foto unten), um die gesamte Kirchenburg, auch am Mainzer Berg, als äußere Mauer eines Doppelmauersystems herumgezogen, außerdem (gesichert) die Fortsetzung der inneren nördlichen Mauer durch den Friedhof hindurch bis zur inneren südlichen (hellen) Mauer. Diese Fortsetzung wurde im 19. Jh. wegen einer Friedhofserweiterung abgebrochen. Die beiden hohen Türme - der große "Malakoffturm" rechts (Richtung Süden) und der kleinere an der nordöstlichen Spitze der Kirchenburg, der heute sog. Nordturm (beide jetzt begehbar) - stechen deutlich heraus. Von ihnen aus konnte ein Großteil der Kirchenburg beobachtet bzw. beschossen werden.
Im Westen des Burgkirchenareals erinnert der Name der "Grabengasse" an den ehemals dort vorhandenen äußeren Ringgraben um die Burgkirche, der heute völlig zugeschüttet ist. Nördlich der äußeren Kirchenburgmauer, auf dem Areal von Haus Burggarten, gab es einen "Schießgraben", der gleichfalls auf ein Grabensystem rings um die Kirche deutet.
Der freie Bereich beim Brunnen diente im 19. und frühen 20. Jahrhundert als Gemeindebleiche.
Es folgen vier Fotos, die Wehrmauern rings um die Burgkirche zeigen.
1. ein Blick auf Wehrmauer und Burgkirche vom Mainzer Berg her, über den Festplatz (den zugeschütteten Graben) hinweg
2. ein Blick auf die südliche Doppelmauer, deren Vorplatz seit dem 20. Jahrhundert als Bühne für Freilichtaufführungen genutzt wird
3. ein Blick durch das Mauertor von der Ortsseite her, das man durchschreiten muss, wenn man von Rathaus die frühere "Kirchgasse" und heutige Straße "An der Burgkirche" zur Kirche hin läuft. Man sieht durch das Tor das Kriegerdenkmal für die Ober-Ingelheimer Gefallenen des Ersten Weltkrieges und die Kirche selbst dahinter;
4. und ein Blick auf den mächtigen Malakoffturm, den Hauptwachturm der Wehranlage mit einem Verlies im Keller, über dessen Nutzung aber nichts bekannt ist.