Autor: Hartmut Geißler
In einer zusammenfassenden Beurteilung der Ingelheimer politischen Verhältnisse zur Zeit der Weimarer Republik schreibt Kißener 2015 (S. 42-46):
In Ober- wie in Nieder-Ingelheim ebenso wie in Frei-Weinheim bildeten die SPD, die Zentrumspartei und die Demokraten die stärksten politischen Gruppierungen. In dem mehrheitlich protestantischen Ober-Ingelheim dominierten die Liberalen etwas mehr, in Nieder-Ingelheim die Sozialdemokraten, und im überwiegend katholischen Frei-Weinheim war es die Zentrumspartei, die den Ton angab. Der neuen demokratischen Ordnung fühlten sie sich alle verpflichtet. Das zeigte sich zum Beispiel 1920, als man gemeinsam den reaktionären Kapp-Putsch ablehnte und die Führungsfigur der Ingelheimer Demokraten, Pfarrer Korell, die demokratischen Traditionen Ingelheims in einer weite Teile der Bürgerschaft beeindruckenden Rede beschwor. Das zeigte sich 1922, als in Ober-Ingelheim eine große demokratische Trauerkundgebung gegen den Mord an Außenminister Walter Rathenau organisiert werden konnte. Das zeigte sich auch in den regelmäßig stattfindenden Verfassungsfeiern, die in Ingelheim würdiger und ernsthafter durchgeführt wurden als an vielen anderen Orten Deutschlands. Auch die Konstanz, mit der die ehrenamtlichen Bürgermeisterämter besetzt waren, ist ein Indiz für die demokratische Basis: In Nieder-Ingelheim übte dieses Amt von 1912 bis 1932 der Demokrat Leonhard Muntermann aus, in Ober-Ingelheim von 1910 bis 1930 der DDP-Mann Wilhelm Bauer, und in Frei-Weinheim amtierte von 1901 bis 1934 das Zentrumsmitglied Franz-Josef Kitzinger.
Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass trotz relativ stabiler politischer Verhältnisse auch manche Schwächen und Belastungen der örtlichen politischen Kultur existierten, die sich in Krisenzeiten als Gefahr auswirken konnten. Das aus der Kaiserzeit nationalliberal geprägte Bürgertum, dem auch die Familie Boehringer zuzurechnen war, entwickelte sich vielleicht zu Vernunftrepublikanern, aber gegenüber der Demokratie Weimarer Prägung blieb man in diesen Kreisen doch skeptisch eingestellt. Eine wirkliche Heimat haben diese altliberalen bildungs- und wirtschaftsbürgerlichen Kreise in der Weimarer Republik nie gefunden, als Stütze der demokratischen Ordnung wird man sie nicht bezeichnen können.
Sodann gab es auch hier Gruppierungen, die dem Kaiserreich stark verhaftet blieben. Zu diesen Kreisen zählten ausgesprochene Monarchisten, die sich zum Beispiel 1921 noch zur Pflege alter Traditionen trafen, die vielen militaristischen Kriegervereine und Kameradschaften, seit 1930 dann auch der „Stahlhelm“, in dem sich die alten Frontsoldaten zusammenfanden, und auch ihr Pendant, der Königin-Luise-Verein, in dem christlich und streng national orientierte Frauen ihre rückwärtsgewandten politischen Vorstellungen pflegten. Auch antisemitische Gruppierungen waren in Ingelheim aktiv, ebenso wie der Tannenbergbund des kaiserlichen Generalquartiermeisters im Ersten Weltkrieg Erich Ludendorff, dessen Versammlungen wegen Volksverhetzung sogar aufgelöst werden mussten.
Die französische Besatzung rief einen aggressiven Nationalismus hervor, der durch die französische Förderung des Separatismus weiteren Aufwind bekam. Neben den altbekannten politischen Frontlinien führte der Separatismus zu einer nationalistischen Spaltung der Gesellschaft, die keinerlei Differenzierung oder Nuancierung mehr zuließ. Wer auch nur in den Geruch kam, irgendetwas am Separatismus bedenkenswert zu finden, besiegelte damit seinen kommunalpolitischen Tod. Hinzu kam schließlich, dass auf der lokalpolitischen Bühne auch manche persönlichen Feindschaften und Animositäten ausgetragen wurden, die die örtliche politische Kultur verpesteten und das politische System destabilisierten. Der Rücktritt des Nieder-Ingelheimer DDP-Bürgermeisters Muntermann 1932 ist dafür ein beredtes Beispiel. [...]
Einem vereinzelten, aber doch wohl zuverlässigen Zeugnis zufolge neigte Kommerzienrat Albert Boehringer der DVP zu, für die er sich zur Gemeinderatswahl 1919 aufstellen ließ. Auch Marianne Boehringer, die Frau von Albert Boehringer Jr., gab später an, DVP-Wählerin gewesen zu sein. Die DVP war ein Sammelbecken alter Nationalliberaler, die sich mit der Republik nur bedingt anfreunden konnten und die Interessen von Mittelstand und Bürgertum in streng nationalem Geist vertraten. Die DVP war allerdings auch die Partei eines der wenigen Lichtgestalten des republikanischen Politikbetriebes, Gustav Stresemanns, der 1925 die deutsch-französische Annäherung im Locarnovertrag zu bewerkstelligen wusste.
Deutlicher als in der parteipolitischen Verortung kam die nationale Orientierung der Unternehmerfamilie noch in ihrer Verbundenheit zu militärischen Vereinen zum Ausdruck, denen die ehemaligen Kriegsteilnehmer, allen voran die Brüder Albert und Ernst, angehörten. Den Soldaten des Ersten Weltkrieges ein ehrenvolles Andenken zu bewahren, fühlte man sich verpflichtet und wandte dafür bedeutende Summen auf, sei es für den Krieger- und Soldatenverein Nieder-Ingelheim, sei es für das Ingelheimer Kriegerehrenmal. Ernst Boehringer erwarb ein Schlachtengemälde über den Ersten Weltkrieg von Fritz Eder, der schon für die Oberste Heeresleitung gearbeitet hatte, und dekorierte damit einen Besprechungsraum im Unternehmen. Als nach dem Ende der französischen Besatzungszeit 1930 im Oktober dieses Jahres eine Gruppe des konservativen Frontkämpferverbandes „Stahlhelm“ in Ingelheim eröffnet wurde, traten sowohl Ernst wie Albert Boehringer und auch Julius Liebrecht ein. Dass damit eine Nähe zu rechtsradikalen Ansichten, wie sie die NSDAP zu dieser Zeit auch in Ingelheim zu propagieren begann, verbunden gewesen wäre, ist allerdings unwahrscheinlich.
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Im Folgenden werden die verschiedenen Wahlergebnisse zusammengestellt. Die kursiv gedruckten Zitate sind ebenso wie die Wahlergebnisse der Ingelheimer Chronik entnommen, ergänzt durch Kopien aus den Zeitungen. Nicht alle Texte der Chronik, wo die originalen Zeitungsmeldungen gelegentlich nicht wörtlich, sondern paraphrasiert wiedergegeben werden, wurden an den Zeitungen selbst auf ihre Stimmigkeit hin überprüft.
Die Daten für Groß-Winternheim wurden - soweit möglich - aus Zeitungsmeldungen bzw. aus den originalen Wahlunterlagen im Ingelheimer Archiv ergänzt (noch nicht vollständig).
Der Aufstieg der NSDAP wird auf einer gesonderten Themenseite zur Epoche 1933 - 1945 behandelt.
Nachdem während des Ersten Weltkrieges keine Wahlen zu Gebietskörperschaften stattfanden, konnten und sollten auch die Ingelheimer am 19. Januar 1919 zur ersten Nachkriegswahl gehen, nämlich zur Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung, die danach im ruhigen Weimar und nicht im von Aufständen erschütterten Berlin zusammentrat - daher der Name "Weimarer Republik".
Durch die Ausweitung des Wahlrechtes auf die Frauen schnellte die Zahl der Wahlberechtigten 1919 in die Höhe, z.B. in Nieder-Ingelheim von 973 bei der letzten Reichstagswahl vor dem Krieg auf nunmehr 2240.
Die Deutsche Demokratische Partei versuchte die Frauen-Wahlbeteiligung am 19. 01. 1919 durch Aufrufe an die nun wahlberechtigten Frauen in der Zeitung zu steigern:
Beide Wahlaufrufe im "Rheinhessischen Beobachter" am 18. Januar 1919/Geißler
Von der DDP wurde auch der ehemalige Bürgermeister von Nieder-Ingelheim, Paul Christian Saalwächter, als Kandidat für die Wahl zu Nationalversammlung aufgestellt, aber nicht gewählt.
Die Wahl zur Nationalversammlung, die durch ihr neues Wahlrecht "demokratischer" als die vorausgegangenen Reichstagswahlen (mit der ausschließlichen Mehrheitswahl von Personen in Wahlkreisen) sein sollte, fand zum ersten Mal nach reinem Verhältniswahlrecht statt, also nur nach Parteienlisten, ohne eine 5%-Klausel.
Sie brachte in Ingelheim folgendes Ergebnis (der wichtigsten Parteien in Auswahl):
Parteien | Ober-Ingelh. | Nied.-Ingelheim | Frei-Weinheim | Großwinternheim
|
SPD | 707 | 908 | 162 | 92
|
DDP | 556 | 586 | 50 | 151 |
Zentrum | 373 | 387 | 201 | 110
|
DNVP | 40 | 94 | 18 | 50 |
Das heißt, die SPD wurde zur stärksten Partei in beiden Ingelheim und zur zweitstärksten Kraft in Frei-Weinheim, wo das Zentrum die meisten Stimmen erhielt. Deutlich war der SPD-Vorsprung im industrielle geprägten Nieder-Ingelheim, während in Ober-Ingelheim auch die rechte Deutsch-Nationale Volkspartei einen erheblich Stimmenanteil erringen konnte.
Im ländlichen Großwinternheim - Daten aus dem Archiv - erreichte die SPD nur den dritten Platz. Bemerkenswert sind hier die meisten Stimmen für die Demokraten.
"2. Oktober 1919 - N.-I. Bei einer Wahlveranstaltung des Zentrums wurde Karl Mett einstimmig zum 1. Vorsitzenden gewählt."
"16. Oktober 1919 - O.-I. Kein Wahlkampf. Zur Vermeidung eines Wahlkampfes hat man sich in Ober-Ingelheim zur Aufstellung einer gemeinsamen Kandidatenliste geeinigt. Die Demokraten und Sozialdemokraten erhalten je 5, das Zentrum und die Nationalliberalen je 2 Gemeinderatssitze. - In Nieder-Ingelheim konnte man sich nicht auf eine gemeinsame Liste einigen."
"Die Volkszählung am 8. Oktober ergab in Ober-Ingelheim 3634 Einwohner (1913 = 3512). In Nieder-Ingelheim sind es 3927 Einwohner gegenüber 4058 im Jahre 1913." (Chronik, S. 95)
"25. Oktober 1919 - N.-I. Wahllisten. Zur Gemeinderatswahl sind 5 gültige Wahlvorschläge eingereicht worden: von den Sozialdemokraten, dem Zentrum, der Deutsch-Demokratischen Partei, der Deutschen Volkspartei und den "unparteiisch vereinigten Bürgern". Auf der Liste der Deutschen Volkspartei steht Fabrikant Albert Boehringer neben Gemeinderat Wilh. Andres, Gutspächter Ludwig Brambeer, Kohlenhändler E. Brücker, Kaufman Gg. Bezold und Schriftsteller A. Burger. Nachdem die gemeinsame Liste in Ober-Ingelheim geplatzt ist, gibt es vier Vorschläge: von Sozialdemokraten, Demokraten, Zentrum und Neutralen (unterstützt von der Deutschen Volkspartei). Zwischen SPD, Demokraten und Zentrum ist Listenverbindung vereinbart als Block gegen den neutralen bürgerlichen Wahlvorschlag."
Auch in den Gemeinderatswahlen von Ober- und Nieder-Ingelheim (ebenfalls Listenwahlen) am 9. November 1919 gingen die Sozialdemokraten als Sieger hervor, während in Frei-Weinheim das Zentrum die meisten Stimmen bekam; Wahlbeteiligung: in OI etwa 2/3, in NI 72%.
Parteien | Ober-Ingelheim | Nieder-Ingelheim | Frei-Weinheim |
SPD | 412 | 571 | 181 |
DDP | 318 | 467 | DDP+DVP: 73 |
Zentrum | 252 | 350 | 196 |
Unpartei. | 430 | 218 | - |
Hierbei konnte die SPD nur in Frei-Weinheim Stimmen hinzu gewinnen, während sie in den beiden Ingelheim kräftig verlor. Auch DDP und Zentrum verloren in beiden Ingelheim an Stimmen, während die "Unparteiischen" besonders in Ober-Ingelheim einen großen Faktor mit den meisten Stimmen darstellten.
Gewählt wurden in Ober-Ingelheim:
Unparteiische Wählergruppen:
Heinrich Weitzel III, Landwirt; Karl Weidenbach, Kaufmann; Friedrich Jakob Freund, Weinhändler; Johann Espenschied, Lehrrer;
Sozialdemokratische Partei: Josef Schneider, Lagerhalter; Josef Hirsch, Kaufmann; Heinrich Menk, Landwirt; Fritz Müller, Landwirt; Nik. Singer, Eisenbahnschlosser;
Demokratische Partei: Johann Gemünden, Bauunternehmer; Karl Döhn II, Landwirt; Emil Göttl, Notariatssekretär;
Zentrum: Andreas Schönherr, Landwirt; Fritz Müller, Weingutsbesitzer; Wilhelm Gerstel, Schlosser.
Und in Nieder-Ingelheim:
Sozialdemokraten: Georg Adam Zink, Karl Odernheimer, Michael Reisinger II, Heinrich Süßenberger, Wilhelm Ludwig Reisinger;
Deutsch-demokratische Partei: Kaufmann Otto Buß, die Landwirte Karl Fink und Rudolf Saalwächter, Fabrikant Wi!helm Kaege;
Zentrum: die Landwirte Karl Mett I und Ambros Joh. Köhler, Dachdeckermeister Joh. Philipp Malchus;
Liste der unparteiisch vereinigten Bürger: Maurermeister Christian Schweikhard, Landwirt Friedrich Benhard;
Deutschen Volkspartei: Postsekretär Wilhelm Andres.
In Frei-Weinheim wurden gewählt:
Zentrum: Bernhard Berger, Jakob Dietrich 5., Markus Hammer, Anton Kneib 3., Friedrich Eich (sämtliche Landwirte);
SPD: Landwirt Jakob Link 2., Maschinenmeister Wilhelm Röser, Gastwirt und Kohlenhändler Gustav Schnell, Küfer Philipp Dietrich, Staatsarbeiter Adam Arnold;
"Bürgerpartei" (= vereinigte Demokratische und Deutsche Volkspartei): Bäckermeister Friedrich Wilhelm Kremer, Fabrikbesitzer Dr. Bopp.
Kurz darauf (im November/Dezember 1919) wurden die Bürgermeister der drei Ingelheimer Orte aus der Vorkriegszeit in direkter Volkswahl wiedergewählt:
Wilhelm Bauer (DDP, Ober-Ingelheim) mit 1166 Stimmen,
Leonhard Muntermann (DDP, Nieder-Ingelheim) mit 1779 von 2430 Stimmen und
Franz Josef Kitzinger (Zentrum, Frei-Weinheim) mit 386 von 391 Stimmen.
Ergebnisse der Beigeordnetenwahlen im Dezember 1919:
"16. Dezember 1919 - O.-I. Der Kandidat der bürgerlichen Parteien, Deutsche demokratische Partei, Zentrumspartei und Deutsche Volkspartei, bei der Beigeordnetenwahl, Metzgermeister Philipp Gebhardt, siegte mit 875 Stimmen über den Kandidaten der Sozialdemokraten, Gemeinderat Josef Schneider, der 388 Stimmen erhielt."
"24. Dezember 1919 - N.-I. Prinz wiedergewählt. Der seitherige Adjunkt Ludwig Prinz wurde mit 706 Stimmen wiedergewählt."
Bei der Reichtagswahl am 6. Juni 1920 verloren die drei Parteien der „Weimarer Koalition“ (SPD, Z, DDP), die als einzige die „Weimarer Republik“ bejahten und verteidigten, ihre absolute Mehrheit, die sie auch nie wieder errangen.
Ergebnisse der drei Reichstagswahlen (1920, Mai 1924, Dezember 1924) in den drei Ingelheimer Orten (Parteien in Auswahl):
Reichstagsw. | Ober-Ingelheim | Nieder-Ingelheim | Frei-Weinheim | ||||||
1920 | 5/1924 | 12/1924 | 1920 | 5/1924 | 12/1924 | 1920 | 5/1924 | 12/1924 | |
Wahlberecht. |
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|
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| 2402 | 2789 |
| 616 |
|
abgeg. Stimmen |
|
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| 1694 | 2198 |
| 339 |
|
SPD | 365 | 293 | 479 | 533 | 497 | 780 | 102 | 89 | 144 |
DVP | 370 | 223 | 287 | 163 | 119 | 172 | 31 | 14 | 2 |
KPD |
| 116 | 73 |
| 32 | 29 |
| 2 | 3 |
DDP | 473 | 381 | 483 | 623 | 565 | 584 | 57 | 60 | 85 |
DNVP |
| 28 | 48 |
| 38 | 48 |
| 4 | 2 |
Zentrum | 301 | 330 | 361 | 395 | 346 | 463 | 156 | 159 | 226 |
USPD |
| 9 |
|
| 12 |
|
|
|
|
Völk. soz. B. |
| 17 |
|
| 8 |
|
|
|
|
Hess. Bauernbund |
| 173 |
|
| 116 |
|
|
|
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Rheinh. Landliste |
|
| 118 |
|
| 80 |
|
|
|
Die SPD konnte bei diesen drei Reichstagswahlen ihre Führung in beiden Ingelheim, die sie noch bei der Wahl zur Nationalversammlung errungen hatte, nicht verteidigen. In Ober-Ingelheim hatte sie im Zentrum, aber auch in den beiden Mitte-links- bzw. Mitte-rechts-Parteien DDP und DVP etwa gleichstarke Konkurrenten.
In Nieder-Ingelheim wurde sie 1920 und im Mai 1924 von der DDP überholt, konnte jedoch im Dezember 1924 wieder die meisten Stimmen für sich verbuchen.
Anders in Frei-Weinheim, wo das Zentrum in allen drei Wahlen unangefochten die meisten Stimmen erhielt. Immerhin hielt sich dort die SPD stets an zweiter Stelle.
Bemerkenswert sind auch die vielen Stimmen für den "Hessischen Bauernbund" (und "Rheinhessische Bauernschaft") und die "Rheinhessische Landliste" in beiden Ingelheim. Sie sind wohl ein Indiz dafür, dass sich viele Ingelheimer Bauern durch die Berliner Parteien nicht ausreichend repräsentiert fühlten.
Nach der ersten dieser drei Reichstagswahlen wurde am 27.11.1921 der hessische Landtag neu gewählt; hier die Wahlergebnisse in Ingelheim:
Parteien | Ober-Ingelheim | Nieder-Ingelheim | Frei-Weinheim |
SPD | 349 | 577 | 70 |
DDP | 408 | 532 | 31 |
Zentrum | 331 | 427 | 226 |
DVP | 404 | 151 | |
USDP/KPD | 9 | - | - |
Sie entsprechen ungefähr den Reichstagswahlergebnissen von 1920. Lediglich in Frei-Weinheim schnitten das Zentrum viel besser und die SPD viel schlechter ab als bei der Reichstagswahl im Jahr zuvor. Dagegen ging bei den Gemeinderatswahlen im November 1922 in Ober-Ingelheim zwar die "Vereinigten Bürgerliche Liste" als Wahlsieger hervor, in Nieder-Ingelheim aber wieder die Sozialdemokraten und in Frei-Weinheim wie gewohnt das Zentrum:
Gewählt wurden in Ober-Ingelheim:
Hch. Weitzel 3, Emil Göttl, Jak. Fr. Freund, Johann Gemünden, Karl Weidenbach, J. J. Stahl, Karl Döhn, Wilhelm Herbert, J. Fr. Müller, Jakob Nichtern, I. W. Gerstel, Jos. Schneider, P. N. Rochelmeyer, Nik. Singer, Fritz Müller;
in Nieder-Ingelheim:SPD: G. Zink, Hch. Süßenberger, Wilhelm Ludwig Reisinger, Ludwig Hein, Jakob Behrens; Demokraten: Rud. Saalwächter, Adam Engel, Lehrer Seibert, Karl Hilgert; Zentrum: Karl Mett, Johann Phil. Malchus, Ambrosius Köhler; Deutsche Volkspartei: Postmeister Wil. Andres; vom Bauernverein: Joh. Lager; von den Unparteiischen: Christian Schweikhard;
in Frei-Weinheim: Zentrum: Anton Kneib 3., Friedrich Eich, Nikolaus Ball, Leonhard Berger, Markus Berger); Vereinigte Bürgerliche Parteien: Dr. Bopp, Fr. Wilhelm Kremer; Vereinigte Sozialdemokratische Partei: Wilhelm Röser, Heinrich Heep.
Die Wahlen in Groß-Winternheim vom November 1922 ergaben folgendes Ergebnis, das eindeutig von der Bauernliste dominiert wird:
Im Mai 1923 wurde in Nieder-Ingelheim und Frei-Weinheim eine erneute Gemeinderatswahl mit einer geringen Wahlbeteiligung von unter 50% der Wahlberechtigten durchgeführt:
"12. August 1924 - Während der Verfassungsfeiern sprach in Ober-Ingelheim Dr. Oppenheimer und in Nieder-Ingelheim Pfarrer Fresenius, Essenheim, der ein eifriger Kämpfer für den Weltfrieden ist. Lehrer Dexheimer hielt in Frei-Weinheim die Festrede. Überall umrahmten Vereinsdarbietungen die festlichen Stunden."
"21. August 1924 - O.-I. Der Reichstagsabgeordnete Prof. Dr. Heuß, der für die demokratische Partei über Friedrich Naumann und die Weimarer Verfassung spricht, ist Mitarbeiter der bekannten, angesehenen von Naumann gegründeten Zeitschrift "Die Hilfe" und als Professor an der Hochschule für Politik in Berlin tätig. Die glänzende Befähigung des Redners auf historischem und kulturpolitischem Gebiet, seine sachliche und ruhig schwäbische Art empfehlen gleichermaßen, besonders auch für Damen, den Besuch seines Vortrages. Heuß ist im württembergischen Weinbaugebiet gewählt, seine Doktorarbeit behandelt den Weinbau. Er wird auch über den deutsch-spanischen Handelsvertrag sprechen."
"21. Januar 1925 - F.-W. Reichsbanner. Bereits über 100 Mitglieder zählt die hier gegründete Kameradschaft des Reichsbanners Schwarzrot-gold."
"28. Januar 1925 - Reichsbanner-Kundgebung. In einer Kundgebung des Reichsbanners Schwarz-rot-gold, bei der nach der Begrüßung durch Dr. Funcke, Nieder-Ingelheim, Gauvorstandsmitglied Landtagsabgeordneter Reiber, Landtagsabgeordneter Reuter und Reichstagsabgeordneter Korell sprachen, wurde eine Depesche an den Reichspräsidenten von der Versammlung angenommen, in der die Verachtung gegenüber den verleumderischen Verunglimpfern der Würde und Ehre des um das Vaterland verdienten Reichspräsidenten ausgedrückt wird."
"17. Oktober 1925 - O.-I. Friedensgesellschaft. Die Ortsgruppe Ingelheim der Friedensgesellschaft hatte zu einem Bericht von Assessor Balser über die Weltfriedenskonferenz in Paris, bei der er selbst anwesend war, eingeladen. Balser verstand es ausgezeichnet, die Bemühungen der Gesellschaft um Frieden darzustellen."
Bei den zwei Wahlgängen zur Reichspräsidentenwahl 1925 stimmten die Ingelheimer beide Male mit großer Mehrheit für den Kandidaten des „Volksblocks“ (getragen von SPD, Zentrum, DDP und Reichsbanner) Reichskanzler a. D. Dr. Wilhelm Marx (Zentrum), während der im Reich tatsächlich gewählte General von Hindenburg in Ingelheim beide Male weniger als die Hälfte der Stimmen erhielt.
Hier die Ergebnisse des zweiten Wahlganges:
Zur Wahl von Dr. Marx hatten aufgerufen: SPD, Zentrum, DDP, Reichsbanner; er hatte also die überwiegende Mehrheit der Ingelheim hinter sich, erhielt aber nicht die Mehrheit im Reich. Hinter General von Hindenburg standen: BVP, DNVP u.a.; hinter Thälmann: die KPD.
Im Oktober bzw. November 1925 wurden die Bürgermeister von Nieder-Ingelheim und Frei-Weinheim, Leonhard Muntermann (DDP) und Franz Josef Kitzinger (Z), in direkter Volkswahl wiedergewählt, während die Gemeinde Ober-Ingelheim einen Berufsbürgermeister anstellen wollte und seine Stelle vorerst kommissarisch verwalten ließ.
Kitzinger bedankte sich mit einer Zeitungsannonce für die mit sehr hoher Wahlbeteiligung (91%) zustande gekommene Wiederwahl:
Die Ergebnisse der Gemeinderatswahlen am 15. November 1925
- in Ober-Ingelheim: Stimmberechtigte: 2449, abgegebene Stimmen 1528 (= 62,4%).
Die weitaus meisten Stimmen (500) wurden also nicht den reichsweit vertretenen Parteien gegeben, sondern einer lokalen Bürgerliste. Die SPD, die in Ober-Ingelheim 1919 und 1922 noch an zweiter Stelle gelegen hatte, nahm nun den vierten Platz ein, noch hinter der "Arbeiterschaft".
Stimmberechtigte: 2449, abgegebene: Stimmen 1528 (= 62,4%). Gewählt wurden:
SPD: Josef Schneider, Fritz Müller;
Demokraten: Karl Wilhelm Bauern, Jean Gemünden, Karl Bieser;
Zentrum: Wilhelm Gerstel, Jakob Nichtern, Jak. Friedrich Müller;
Bürgerliste: J. F. Freund, E. Göttl, Wilh. Herbert, Karl Weidenbach, J. J. Stahl;
Arbeiterschaft: Wilh. Hartmann, Otto Wedekind.
- In Nieder-Ingelheim waren die politischen Verhältnisse durch persönliche Animositäten bei der vorausgegangenen Bürgermeisterwahl so vergiftet, dass DVP, DDP und Zentrum erklärten, nicht mehr mit dem gegen ihren gemeinsamen Kandidaten Paul Prinz doch wiedergewählten Bürgermeister Muntermann (DDP) zusammenarbeiten zu wollen, und ihre Wahlvorschläge zurückzogen. (Würtz in Meyer/Klausing, S. 74)
Der Gemeinderat setzte sich deshalb nach Wahlen mit z.T. gemeinsamen Listen aus nur den folgenden Parteien zusammen:
Stimmberechtigte: 2820, abgegebene Stimmen: 1280 (= 45,4%), davon waren 240 ungültig. Der Wahlboykott von DVP, DDP und Zentrum erklärt die geringe Wahlbeteiligung und die hohe Zahl der ungültigen Stimmen.
SPD: Friedhofsaufseher Georg Zink, Vorarbeiter Hch. Süßenberger, Fabrikarbeiter Wilh. Lud. Reisinger, Schneidermeister Ludwig Hein, Schreiner Jakob Behrens, Landwirt Joh. Karl Menk und Formermeister Joh. Heinen;
Bauernschaft: Landwirt Johann Stritter 1., Landwirt Joh. Friedrich Weitzel;
Bürgerliste: Maurermeister Christian Schweikhard, Landwirt Fritz Huf 2., Werkmeister Heinrich Weitzel, Eisenbahnsekretär i. R. Joh. Baptist Weidmann, Bauunternehmer Fritz Struth, Fabrikarbeiter Otto Malchus.
- Stimmen in der Groß-Winternheimer Gemeinderatswahl mit gemeinsamen Listen:
Vereinigte Parteien | |||
117 |
"26. Januar 1926 - Ingelheim. Gegen die maßlosen Fürsten-Forderungen. Die Zentrumspartei, die Deutsche Demokratische Partei, die Sozialdemokratische Partei, die Kommunistische Partei, der Reichsbund der Kriegsbeschädigten, die Liga für Menschenrechte, der Reichsbanner Schwarz-rot-gold veranstalten in Ingelheim zwei Kundgebungen, um mit namhaften Politikern gegen die maßlosen Forderungen der ehemaligen deutschen Fürsten zu protestieren. Aus Ober-Ingelheim spricht Studienassessor Balser. - Die Deutsche Volkspartei distanziert sich von diesen Kundgebungen, da die angeschnittene Frage eine rein juristische sei, für die ein Reichstagsausschuß eingesetzt sei."
Ein Volksentscheid im Juni 1926 für die entschädigungslose Enteignung der 1918 abgesetzten Fürstenhäuser fand
- in Ober-Ingelheim 1207 Befürworter (bei 58 Nein-Stimmen und 23 Enthaltungen),
- in Nieder-Ingelheim 1227 (gegenüber 43 Nein und 26 Enth.) und
- in Frei-Weinheim 164 (bei 10 Nein und 7 Enth.).
Man sieht, die Interessen des Adels fanden auch in allen drei Ingelheimer Orten, in denen es schon seit dem 18. Jahrhundert so gut wie keinen Adel mehr gab, und vor allem seit seiner Entmachtung durch die Französische Revolution, wenig Unterstützung.
Pfarrer Korellverabschiedete sich aus Nieder-Ingelheim, nun als hessischer Minister:
"12. März 1928 N.-I.: Abschied von Minister Korell. Auf Anregung des Gemeinderates und einer Einladung des Bürgermeisters Muntermann folgend, fanden sich Bürger und Bürgerinnen im Saale des Gasthofs "Zur Erholung" zusammen, um an einem Abschiedsabend für den bisherigen Ortsgeistlichen und jetzigen hessischen Minister, Pfarrer Korell, teilzunehmen. Die Feier gestaltete sich zu einer imposanten Kundgebung für den Scheidenden. Bürgermeister Muntermann gab seiner Freude darüber Ausdruck, daß Pfarrer Korell zum Minister für Arbeit und Wirtschaft berufen wurde."
Ergebnisse der Reichstagswahl vom 20. Mai 1928 in den drei Ingelheimer Orten:
Wahlberechtigte | 2679 | 3102 | 714 | ||
Wähler | 1392 | 1492 | 307 |
Die Ingelheimer wählten (bei schwacher Wahlbeteiligung um 50%) in dieser Reichstagswahl z.T. erheblich anders als der Reichsdurchschnitt:
1. Ober-Ingelheim:
Während die SPD im Reich die deutlich stärkste Partei der Wahl von 1928 blieb, lag sie in Ober-Ingelheim (mit 163 Stimmen) nur an fünfter Stelle, hinter der DDP (311), dem Zentrum (291), der DVP (230) und sogar noch hinter der KPD (190). Die "Christlich-Nationale Bauernpartei", die im Reichstag nur 13 Mandate bekam, erhielt in Ober-Ingelheim immerhin 132 Stimmen, mehr als die Wirtschaftspartei und mehr als die DNVP.
Insgesamt ist hier noch eine Mehrheit für die drei staatstragenden Parteien zu verzeichnen.
2. Nieder-Ingelheim:
In Nieder-Ingelheim, dem am stärksten industrialisierten Ort, konnte die SPD ihre deutlich führende Stellung wie im Reich behaupten. Die KPD erhielt hier nur 77 Stimmen, viel weniger als im wenig industrialisierten Ober-Ingelheim. Stark waren hier auch das Zentrum und die DDP. Die drei staatstragenden Parteien SPD, Zentrum, DDP hatten hier mit 1067 Stimmen eine überwältigende Mehrheit vor den beiden Parteien, die die Republik ablehnten, der DNVP und der KPD mit zusammen 105 Stimmen.
Diese Situation, die im Reich schon längst nicht mehr bestand, änderte sich in den nächsten Jahren auch in Nieder-Ingelheim unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise.
3. Frei-Weinheim:
Ähnlich wie in Nieder-Ingelheim war die Lage auch in Frei-Weinheim, hier allerdings mit dem stets führenden Zentrum: Zentrum, SPD und DDP hatten eine überwältigende Mehrheit, zu der man auch noch die DVP hinzu zählen kann.
"17. September 1929 - O.-I.: Die Reichspartei des deutschen Mittelstandes (Wirtschaftspartei) hat hier erstmals, und zwar mit Unterstützung von Rechtsanwalt Ludwig, eine Versammlung abgehalten, um mit den Zielen der Partei die mittelständische Bevölkerung vertraut zu machen."
Die Ergebnisse der letzten freien Gemeinderatswahl in Nieder-Ingelheimam 17. November 1929 vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten zeigen das Zentrum an der Spitze:
Wahlberechtigte | 3135 | ||
Wähler | 1928 | ||
davon ungültig | 128 |
Bei zufriedenstellender Wahlbeteiligung (61,5%) erreichte nun das Zentrum in Nieder-Ingelheim deutlich die meisten Stimmen, nämlich 523 vor der SPD mit 474. Aber auch die DDP konnte noch viele Stimmen gewinnen, so dass diese drei immer noch die absolute Mehrheit im Nieder-Ingelheimer Gemeinderat stellen konnten.
Das heißt: Die Nieder-Ingelheimer bekannten sich mit 68,8% Ende 1929 noch zu den staatstragenden Parteien der Weimarer Republik.
Gewählt wurden:
SPD: W. Ludwig Reisinger, Heinrich Süßenberger, Jakob Heinrich Behrens und Wilhelm Hassemer;
Zentrum mit Sporkenheim: Eduard Michel, Balthasar Zimmer, Heinrich Mett und Karl Lang;
Freie Bauernschaft: Johann Bender 5. und Ewald Frank;
DDP: Adam Engel, Johann Wilhelm Weitzel und Karl Peter Huf;
DVP: Andreas Hartkopf;
Unparteiische Bürgerliste: Christian Schweikhard.
Die Liste Sporkenheim erhielt trotz Listenverbindung keinen Kandidaten, so daß Peter Friedrich für Karl Lang in den Rat zog.
Da in Ober-Ingelheim die Novemberwahl 1929 wegen Formfehlern juristisch angefochten worden war, wurde sie am 6. April 1930 wiederholt und hatte nun das folgende Ergebnis, das der SPD die meisten Stimmen brachte:
Wahlberechtigte | 2753 | ||
Wähler | 1691 | ||
davon ungültig | 33 |
Auch in Ober-Ingelheim hatten bei zufriedenstellender Wahlbeteiligung (61,4 %) SPD, Zentrum und DDP mit 59,5 noch die absolute Mehrheit. Ein Aufkommen von das "System" ablehnenden Nationalsozialisten o.ä. ist noch nicht zu verzeichnen.
Gewählt wurden:
KPD: O. Dengel;
SPD: O. Wedekind, Wilh. Hartmann, Phil. Strack;
Zentrum: Ludwig Wilhelm Gerstel, Jakob Nichtern, Bertram Möser;
DDP: Joh. Gemünden, Karl Friedrich Weitzel III., Karl August Winternheimer;
Wirtschaftspartei: Karl Nehlig, Adolf Ludwig;
Unparteiische: Wilhelm Herbert, Emil Göttl, Wilhelm Alb. Fink.
In Frei-Weinheim war die Wahl durch die Aufstellung einer gemeinsamen Liste aller Parteien und Gruppenüberflüssig geworden.
Der Gemeinderat wurde danach mit 5 Sitzen des Zentrums, mit 3 Sitzen der SPD, mit 2 Sitzen der liberalen Parteien und mit 2 Sitzen der „Unparteiischen“ besetzt.
Am 22. März 1930 fand die erste größere und nach dem Zeitungsbericht sehr gut besuchte Veranstaltung der neu gegründeten Ortsgruppe der Nationalsozialisten in Ingelheim statt, und zwar in Nieder-Ingelheim.
Zitat aus der Chronik, S. 135:
"22. März 1930 - Ingelheim. "Revolution des Geistes". In Nieder-Ingelheim fand eine sehr gut besuchte Versammlung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter Partei, Ortsgruppe Ingelheim, statt. Der Redner, Trefz aus Wiesbaden, schilderte in außerordentlich sachlicher und kundiger Art und Weise die heutige Not .der deutschen Volksgenossen, beleuchtete besonders die Folgen des Young-Planes. Angesichts der riesigen Auswandererzahlen, der vielen, die sich aus Verzweiflung das Leben nehmen, der Zahl der Offenbarungseide und der immer mehr sich steigernden Zahl der Erwerbslosen und Ausgesteuerten sprach der Redner über den Weg, den die Nationalsozialisten gehen, geleitet von dem Grundsatz: Gemeinnutz geht vor Eigennutz, das gesamte deutsche Volk wieder zu einem einheitlichen nationalen Willen und nationalen Denken zu erziehen, dem die Belange der Gesamtheit der Nation, des gesamten Volkes vor den eigenen gehen. Nicht internationaler, sondern nationaler Sozialismus, denn das bedeutet wahren Sozialismus, daß das gesamte Wohl, dem der einzelne Volksgenosse dienen soll, auch wieder dem einzelnen zu Gute kommt. Aus dieser Erziehung wird dann ein Widerstandswille geformt, der den Schandvertrag von Versailles und damit die Ausführungsbestimmungen dazu im Dawes- und Young-Plan für null und nichtig erklärt. Nationalsozialismus will nicht eine Revolution der Straße, sondern eine Revolution des Geistes sein. Kampf für ein wahrhaft deutsches Recht, für deutsche Sitten und deutsche Kultur. Die Worte des Redners fanden den ungeteilten Beifall der Zuhörer, und mit "Heil" auf den Führer der NSDAP, Adolf Hitler, wurde die Versammlung geschlossen."
Eine Woche später sprach Minister Korell (früher evang. Pfarrer in Nieder-Ingelheim, als Abgeordneter der DDP 1920-1928 im Reichstag, seit 1930 parteiloser Minister in Darmstadt) in der Ober-Ingelheimer Turnhalle vor 700 Teilnehmern ebenfalls über den Young-Plan.
Am 11. April folgte eine NSDAP-Veranstaltung in Ober-Ingelheim im Saal der Gaststätte Wenzel (heute „Alt-Ingelheim“) gegen das parlamentarische System. Es gab Tumulte, Reichsbanner-Leute und SA aus dem Selztal waren anwesend.
Der Zuspruch zu dieser neuen Partei in Ingelheim wuchs in der Folgezeit, und zwar in allen Orten. Zitat aus der Chronik, S. 136:
"12. April 1930 - O.-I. NSDAP im Vormarsch. Die NSDAP hielt im Saale Wenzel in Ober-Ingelheim eine Versammlung ab. Der starke Besuch derselben zeigte, daß von einer Versammlungs- Müdigkeit keine Rede sein kann; oder aber, er war zurückzuführen auf das besondere Interesse, das viele von anderen Parteien Enttäuschte einer Bewegung entgegenbringen, die dem heute herrschenden parlamentarischen System und seinen Verteidigern schärfsten Kampf ansagt. Der Redner geißelte die Schwächen und Fehler der deutschen Zustände. Während des Referates wurden immer wieder Zwischenrufe laut. Besonders erregt benahm sich ein Teil der Anwesenden beim Einzug einer nationalsozialistischen Sturmabteilung aus dem Selztal, die den Versammlungsschutz übernommen hatte. In der Diskussion sprachen Gemeinderat Wedekind für die SPD, Herr Eckardt für die KPD, als Parteiloser meldete sich Herr Lenhard zum Wort. Dem unbefangenen Beobachter kann nicht entgehen, daß die nationalsozialistische Bewegung auch im Ingelheimer Grund im Wachsen begriffen ist. Bei den kommenden hessischen Wahlen wird man mit diesem Faktor rechnen müssen."
Aber auch die Verteidiger der Demokratie und die Kommunisten hielten Veranstaltungen ab:
"17. Mai 1930 - O.-I. Die Ortsgruppe Ingelheim der deutschen Friedensgesellschaft hielt eine Mitglieder-Versammlung ab, bei der einmütig zum Ausdruck kam, daß die Ortsgruppe aus der seither geübten Zurückhaltung mehr heraustreten will. Die Friedensgesellschaft erkennt mit vielen anderen gleichgesinnten Bünden die Notwendigkeit, für Ausbau und Aufbau eines auf Rechtsgrundsätzen aufgebauten Friedenszustandes zu arbeiten. Ihre Grunderkenntnis ist, daß Recht vor Macht und Gewalt geht und von längerem Bestand ist als diese."
"12. August 1930 - Die Verfassungsfeier von Ober-Ingelheim stand unter einem guten Stern. Im Saalbau Wedekind hielt Landtagsabgeordneter Steffan, Oppenheim (SPD), eine zündende Rede auf den Geist der deutschen Verfassung. Die beiden Turn- und Gesangvereine sowie das M. A. G. machten sich um die Ausgestaltung verdient - In Nieder-Ingelheim war der Tag ein Bekenntnis aller zur deutschen Republik. Am Nachmittag gab's für die Kinder auf dem Sportplatz Kaffee und Bubenschenkel sowie lustige Spiele. Die Platzmusik des ev. Posaunenchors fand Anerkennung. Am Abend hielt in der Turnhalle Redakteur Dr. Nahm, Bingen, die Festrede. Die Turngemeinde, das "Schubert-Quartett" und der Gesangverein "Einigkeit" sowie der Posaunenchor mit seiner "Jugendkraft" umrahmten den Abend. - In Frei-Weinheim gab es am Nachmittag für die Jugend nach einem Festzug mit Fähnchen durch die Gemeinde in der geschmückten Turnhalle einen bunten Nachmittag mit Weck und Würstchen. Abgeordneter Steffan hielt auch hier die Festrede. Der Gesangverein "Rheingold", die Jugendturner und die Kapelle Crönlein boten den unterhaltsamen Rahmen."
"26. August 1930 - Demokratische Partei - Staatspartei. Der Kreisverein Bingen der Demokratischen Partei hat sich unter ihrem Vorsitzenden, Bürgermeister Bauer, Ober-Ingelheim, dafür ausgesprochen, sich der Deutschen Staatspartei anzuschließen. Der Mainzer Bürgermeister Dr. Ehrhardt ist in dem aus Demokraten und Volks nationalen bestehenden Aktionsausschuß der Staatspartei zum Spitzenkandidaten gewählt worden. - In einer Wahlversammlung der NSDAP mit Prof. Dr. Werner, Butzbach, der in erster Linie die Politik der SPD kritisierte, kam es zu ausführlichen Diskussionsreden von seiten der Sozialdemokraten, der Wirtschaftspartei, der Volkspartei, der Kommunisten und der Deutschen Friedensgesellschaft. Sie dauerte bis nach 1 Uhr."
"10. September 1930 - O.-I. In einer ruhig verlaufenen Wahlversammlung der Kommunistischen Partei im Lokale Ullrich meinte der Referent, daß die SPD keine revolutionäre Partei mehr sei, und auch die NSDAP, die vorgebe, eine Arbeiterpartei zu sein, sei nur ein vorgeschobener Posten des Kapitalismus. - 300 Zuhörer hatte die kommunistische Partei bei einer Wahlveranstaltung in Nieder-Ingelheim. Sicherlich waren so viele gekommen, weil der Reichstagsabgeordnete Ph. Dengel, ein geborener Ober-Ingelheimer, hier erstmals öffentlich sprach."
Die Ingelheimer Zeitung forderte in einem Leitartikel - gezeichnet mit SM - am Samstag, dem 28. Juni 1930, im Hinblick auf die finanzielle Lage: "Helfen kann nur die Diktatur". Nicht die Suche nach neuen Einnahmen, sondern Ausgabenbeschränkung sei das Gebot der Stunde. Man habe nach dem letzten Krieg über die Verhältnisse gelebt. Und: Parlamentarier seien als Parteipolitiker zu sehr durch Rücksichtnahmen gehemmt, also nicht in der Lage, das Notwendige zu beschließen.
Was sich hierin Ausdruck verschafft, war eine allgemeine wachsende Unzufriedenheit mit dem Parlamentarismus der "Weimarer Republik". Und so dachten wohl auch viele Ingelheimer Wähler, die nun ihre Stimme der neuen "Bewegung" der Nationalsozialisten gaben, die eben dieses "System von Weimar" abschaffen wollten.
Die Reichstagswahlen am 14.09.1930, die noch ohne gewalttätige Vorkommnisse in Ingelheim verliefen, brachten wieder eine Führung der SPD in den beiden Ingelheim und die gewohnte Führung des Zentrums in Frei-Weinheim, aber auch wie aus dem Nichts viele Stimmen für die Nationalsozialisten, und zwar
- in Ober-Ingelheim 260, etwa so viele wie für die Staatsparte/DDP,
- in Nieder-Ingelheim 306, mehr als die Staatspartei und mehr als KPD und DVP zusammen,
- und auch in Frei-Weinheim mit 23 so viele wie dort für die DVP.
(Parteien in Auswahl der 24 Wahlvorschläge! - DStP = Deutsche Staatsparte (vorher DDP), Wi.-P. = Wirtschaftspartei, Hess. LV = Hessisches Landvolk)
Offenbar glaubte nun auch in Ingelheim eine zunehmende Zahl von Wählern, dass die neue "Bewegung" der Nationalsozialisten mit dem "System" in Berlin "aufräumen" könnte.
In Ingelheim selbst freilich hatte diese Partei noch keine nennenswerte personelle Basis.
Die "Ingelheimer Zeitung" kommentierte die Wahlergebnisse so: "29. September 1930 - Wirtschaftslage ist ausschlaggebend. Das Programm der Nationalsozialisten spielt für die Millionen, die sie gewählt haben, keine Rolle. Die Parteien der Mitte können die Wählerstimmen wieder zurückgewinnen. Die Wähler verlangen aber eine Politik, die Schluß macht mit kalter Sozialisierung, mit Verschwendung in der Verwaltung, mit Ausplünderung durch Steuern, mit Parteibonzentum."
Die zuletzt genannten Schlagworte erinnern schon stark an den NS-Wortschatz.
Am 14. Oktober, einen Tag nach der Konstituierung des neuen Reichstages in Berlin, hielt die Ingelheimer NSDAP einen Vortragsabend ab unter dem Motto: „Der Sieg ist unser, der Kampf geht weiter! Wir greifen an!“
Nun wurden im Reichstag Hetzreden auf Juden gehalten und auch in Ingelheim verlagerte sich die Auseinandersetzung der Parteien immer mehr weg von sachlichen Argumenten hin zu gewalttätigen Auseinandersetzungen auf den Straßen und in den Sälen.
Eine Ortsgruppe des „Stahlhelms“, des Reichsbundes der Frontsoldaten, wird am 27.10.1930 in Ober-Ingelheim gegründet, mit 50 Anmeldungen an dem Abend.
Am 27.11.1930 legte Bürgermeister Bauer aus Gesundheitsgründen sein Amt mit Wirkung vom 1.12.1930, das er seit 1910 innegehabt hatte, nieder. Die Wahl eines Berufsbürgermeisters in Ober-Ingelheim hat immer noch nicht stattgefunden.
"14. Januar 1931 - O.-I. Tumult im Gemeinderat. Zu einer vorzeitig aufgelösten Gemeinderats-Sitzung kam es, als Beigeordneter Freund während der jüngsten Gemeinderats-Sitzung einen Antrag zur Kenntnis brachte, wonach jeder Wohlfahrts-Unterstützungs-Empfänger verpflichtet sein soll, für je 5,- Mark Unterstützung einen Tag Pflichtarbeit zu leisten. Schon bei der Antragsbegründung durch den Antragsteller machte sich starke Unruhe mit Zwischenrufen aus dem Zuhörerraum bemerkbar. Die Gemeinderäte Dengel und Wedekind lehnten den Antrag scharf ab. Ersterer legte Beschwerde ein gegen die faschistische Einstellung, die die Gemeindeverwaltung und der größte Teil des Gemeinderates in der letzten Zeit einnehmen würden, und verurteilte die Weigerung der Verwaltung, mit dem Arbeitslosen-Rat zu verhandeln und dessen Anträge entgegen zu nehmen. Wedekind erneuerte seine bisherigen Anträge, wonach die Empfänger von Wohlfahrtsunterstützung etappenweise vollbeschäftigt werden sollen, um diese dann zu gegebener Zeit der Reichsarbeitslosen- Versicherung wieder zuführen zu können. Die Opposition im Zuhörerraum machte sich wieder bemerkbar, als Gemeinderat Mößer das Wort ergriff. Dieser unterstützte den Antrag und verteidigte die Haltung der Verwaltung gegenüber dem Arbeitslosen-Rat. Ein beleidigender Zwischenruf aus dem Zuhörerraum bildete den Auftakt zu einem allgemeinen Tumult, weswegen die Sitzung für aufgehoben erklärt werden mußte. Im Sitzungssaal stießen nach Aufhebung der Sitzung die Gemüter einiger Gemeinderäte noch hart aufeinander. Die anwesenden Erwerbslosen und Wohlfahrtsempfänger fanden sich dann vor dem Rathause zusammen, wo die Gemeinderäte Dengel und Wedekind und ein Mitglied des Arbeitslosen-Rats zu den Tatsachen Stellung nahmen."
Im Jahr 1931 mehren sich Aufmärsche und Veranstaltungen von Nazis und Stahlhelm einerseits sowie Zentrum und Reichsbanner andererseits, für das eine Ortsgruppe beider Ingelheim gegründet wird. Vorsitzender des Reichsbanners wird Studienrat Balser von der Realschule.
Am 18. Januar 1931 fand eine Nationalsozialistische Großkundgebung mit uniformierten SA-Abteilungen aus dem Umland auf dem Ober-Ingelheimer Marktplatz und anschließend in der Nieder-Ingelheimer Turnhalle statt:
"19. Januar 1931 - Ohne Zwischenfälle verlief eine nationalsozialistische Kundgebung in Ingelheim. Eine große Zuschauermenge hat sich am Marktplatz Ober-Ingelheim eingefunden, als die SA-Abteilungen, die aus verschiedenen Orten (Stadecken- Hilbersheim, Wörrstadt, Udenheim usw.) zusammengekommen waren, zum Umzug antraten. Auch die Gegner hatten alle Kräfte zusammengezogen, und so wurden die Nationalsozialisten mit Rotfront- und HeilMoskau-Rufen begrüßt. Eine größere Truppe Schutzpolizei war anwesend. Der Umzug, an dem nur uniformierte SA-Abteilungen in einer Stärke von 200-250 Mann teilnahmen, ging unter Vorantritt eines Wiesbadener Spielmannszuges durch die verschiedenen Straßen Ober-Ingelheims. Hier wurde auch auf dem Marktplatz eine Rede gehalten. Der Zug wandte sich dann nach Nieder-Ingelheim, zur Turnhalle. Diese war außerordentlich stark besetzt. Im Gegensatz zu der Rede in Ober- Ingelheim hatte der Redner hier eine Zuhörerschaft, die während der Ausführungen keine Zwischenrufe machte. Es wurde wiederholt starker Beifall gespendet. Die Einmütigkeit dieses Publikums ließ den Gedanken aufkommen, daß die Anwesenden sich zum größten Teil aus Mitgliedern und Stimmenanhängern dieser Bewegung zusammensetzen und daß wie überall, so auch hier, die Idee Adolf Hitlers weitere Fortschritte gemacht hat."
Wenige Tage danach veranstaltete auch die Wirtschaftspartei eine Veranstaltung in Ober-Ingelheim; weitere Parteiveranstaltungen und Treffen ihrer angeschlossenen Gruppen, z. B. Stahlhelm oder Reichsbanner, folgten:
"22. Januar 1931 - Anläßlich einer Versammlung der Wirtschaftspartei (sie vertrat in erster Linie die Interessen des Mittelstandes und der Gewerbetreibenden) mußte man wieder einmal mit Bedauern feststellen, daß wegen der oppositionellen Einstellung eines Großteils der äußerst stark erschienenen Zuhörerschaft eine politische Versammlung in Ober-Ingelheim schwer durchzuführen ist. Vor allen Dingen ist es verwerflich, in einer Versammlung, die lebenswichtige Dinge anspricht, sich als Büttenredner zu produzieren, wie es gestern Abend der Fall war. Ein Parteisprecher aus Mainz lehnte die Bezeichnung Weltwirtschaftskrise als Schlagwort ab. Er führte unseren heutigen wirtschaftlichen Niedergang auf die Wirtschaft der früheren unter sozialistischem Einfluß stehenden Regierungen zurück. Er meinte: Eine Besserung sei nur möglich, wenn dem Spiel der freien Kräfte Raum gelassen werde und wenn die staatlichen Eingriffe in den freien Wettbewerb unterbleiben würden. Hierzu nahmen in sachlicher Art Andersdenkende kritisch Stellung."
"27. Januar 1931 - Stahlhelm-Tag in Ingelheim. Ein festliches Ereignis war die Vereidigung der 150 Ingelheimer Stahlhelmer, die sich unter Ortsgruppenführer Bambach zu einer eigenen Ortsgruppe zusammengefunden haben. Der Festredner, Wolf aus Mainz, ging davon aus, daß der Stahlhelm aus jenen Formationen hervorgegangen sei, die auf Wunsch der Volksbeauftragten den Spartakus niedergeschlagen hätten. Er erklärte, daß die im Stahlhelm organisierten Frontsoldaten nicht ruhig zusehen würden, wenn das Vaterland von dem inneren Feind zerschlagen werde. Der Stahlhelm sei der Kameradschaft und der Tradition der unbesiegten deutschen Armee verpflichtet. Mit der Anerkennung der Weimarer Verfassung verzichtete der Stahlhelm aber nicht auf Kritik. Der Redner führte aus, daß die Parteien bis jetzt versagt hätten und daß Deutschland auch in Zukunft nicht leben könne ohne den Geist, der vom Stahlhelm repräsentiert werde. Während des Zuges der Frontsoldaten zur Nieder-Ingelheimer Turnhalle kam es zu einem Zwischenfall auf dem Ober-Ingelheimer Marktplatz. Die Polizei beseitigte die Störenfriede."
"2. Februar 1931 - N.-I. In einer Versammlung des Zentrums setzte man sich mit dem Nationalsozialismus auseinander. Zu dessen Beleuchtung wurden Schriften nationalsozialistischer Führrer herangezogen. Der Referent hob hervor, daß die Ziele der Nationalsozialisten mit der katholischen Weltanschauung unvereinbar wären und ihr schroff entgegenstehen. Der Redner erzielte großen Beifall."
"3. Februar 1931 - Ingelheim. Republikanische Kundgebung. Das Reichsbanner "Schwarz-Rot-Gold“ veranstaltete in Ingelheim einen "Republikanischen Tag“, bei dem für die Republik, Volksfreiheit und den friedlichen Aufbau demonstriert wurde, um gleichzeitig gegen Faschismus, Gewalt und Bürgerkrieg Stellung zu nehmen. Alle demokratisch denkenden Bürger waren aufgerufen, nachdem vor einiger Zeit die Radikalen in Kundgebungen auch in Ingelheim auf ihre Sache aufmerksam gemacht hatten. Etwa 600-700 Mann nahmen an der Kundgebung teil. In mustergültiger Weise durchzog der Zug die bei den Orte. Sowohl in Ober- als auch in Nieder-Ingelheim wurden Reden gehalten. Studienrat Balser sowie die Landtagsabgeordneten Lebert und Storck gingen auf die Ziele des Reichsbanners ein. Wie damals die feige Mordtat an Rathenau den Anstoß gab zur Abwehrbildung des Reichsbanners, so zwingen heute erneut die lauten Umzüge der Gegner einer freiheitlichen Staatsform zur Abwehr. Hitler, der verunglückte Putschmacher von 1923, darf besonders der Jugend kein Ideal sein. Heute schart er die berüchtigsten Fememörder um sich. Diesem Ungeist von Gewalt und Gewaltandrohung („Köpfe sollen doch rollen!“) setzt das Reichsbanner die Macht der republikanischen Überzeugung entgegen."
"13. Februar 1931 - Ingelheim. Eine stattliche Zahl Republikaner konnte der Versammlungsleiter Studienrat Balser in der Reichsbanner-Gründungsversammlung begrüßen. Neben 15 Neuanmeldungen waren 96 (?) Anhänger der republikanischen Sache erschienen und hatten sich als Gründer eingezeichnet, sodaß mit den seither sich gemeldeten die Zahl 150 weit überschritten ist. Kamerad Lebert referierte kurz über Ziel und Zweck und übernahm die Leitung zur Vorstandswahl, die folgendes Ergebnis hatte:
1. Vorsitzender Studienrat Balser, 2. Vorsitzender und Schriftführer W. Hassemer, Phil. Glück Kassierer, Beisitzer Gg. Schweikhard und E. Michel.
Die Wahl der beiden Gruppenführer wurde zum nächsten Aktiventreffen, die Wahl der 2 weiteren Beisitzer zur nächsten Quartalsversammlung verschoben. Anschließend referierte Kreisleiter Lebert über organisatorische Fragen. Der neugewählte Vorsitzende Kamerad Balser verpflichtete sodann durch Handschlag die Vorstandsmitglieder zu treuer Kameradschaft und hofft auf brüderliches Zusammenarbeiten in den beiden Ingelheim. Er fordert zum festen Durchhalten mit Ruhe und Besonnenheit auf, auch wenn es zum Aeußersten kommt. Als Unterkassierer fungieren in Nieder-Ingelheim Kamerad Karl Fries, in Ober-Ingelheim Kamerad Josef Trauntwein [sic!]. Zum Saalschutz meldeten sich sofort einige Dutzend Kameraden. Hierauf schließt Kamerad Balser die begeistert verlaufene Versammlung mit der Aufforderung, weiter zu werben im Interesse unserer großen Sache und dreifachem Frei Heil der Erhaltung und dem weiteren Ausbau der deutschen Republik. H."
[So der originale und ungekürzte Text der Zeitungsmeldung, die in der Chronik zusammengefasst wurde. Geißler mit Dank an H. G. Meyer, 22.09.10]
"25. Februar 1931 - Protestkundgebung. Die NSDAP veranstaltete eine Protestkundgebung. Darin wurde darauf aufmerksam gemacht, daß, aus nationalsozialistischer Sicht, die SA- und SS-Leute Freiwild der Marxisten geworden sind, daß die Vertreter der NSDAP von Kommunisten und Reichsbanner überfallen werden, was Tote und Verletzte koste. Der Redner Hans Eberhard Siebert, Albig, der wegen seiner nationalsozialistischen Gesinnung seines Postens als Lehrer von der hessischen Regierung enthoben wurde, betonte, daß die NSDAP nach wie vor auf vollkommen legalem Wege die Macht in Deutschland erringen wolle und werde. Zum Abschluß wurde stehend das Horst-Wessel-Lied gesungen."
"2. März 1931 - Reichsbanner, Friedensgesellschaft und freie Organisationen ermöglichten in geschlossener Veranstaltung vor etwa 500 Besuchern die Vorführung von etwa 70 Ausschnitten aus dem verbotenen Remarque-Film „Im Westen nichts Neues“. Anschließend kam in einer Resolution folgendes zum Ausdruck: Eine außerordentlich stark besuchte Versammlung von Reichsbannerleuten und Friedensfreunden des alten demokratischen Ingelheimer Grundes drückt ihr Erstaunen darüber aus, daß dem deutschen Volk durch das Verbot eine eigene Urteilsbildung über den Remarque-Film entzogen worden ist. Sie drückt ihre Empörung darüber aus, daß auf der anderen Seite Filme mit einer billigen kriegsverherrlichenden Tendenz weiter geduldet bleiben."
"18. April 1931 - Die Ortsgruppe Ingelheim des Bundes "Königin Luise“ fand sich zu ihrer ersten feierlichen Verpflichtung zusammen. Der Saal war geschmückt mit schwarz-weiß-roten Fahnen und mit dem Bildnis der Königin Luise. Die Gauführerin wies auf die Ziele und Aufgaben des Bundes hin: sich bewußt zu stellen auf Förderung des christlichen Wesens und nationalen Gedankens unter Ausschaltung jeder Parteipolitik und bei Ausschaltung aller Gegensätze von Rang und Stand selbstlose Hilfsbereitschaft und echte Kameradschaft zu pflegen."
"20. April 1931 - N.-I. Die vom Tannenbergbund, Anhänger Ludendorffs, im Cafe Hartmann abgehaltene politische Versammlung war von etwa 35 Personen besucht. Der Redner, Major a. D. Hans Pommer, sprach zu dem Thema: „Bürger- und Weltkrieg drohen auf deutschem Boden.“ Durch Äußerungen gegen die jetzige Regierung und ihre Führer veranlaßt, erteilte der anwesende Gendarmerie-Kommissar von Bingen eine ernste Verwarnung, der sich der Major in nicht gerade liebenswürdigem Ton widersetzte. Nachdem der Redner in diesem Zusammenhang auf die Person Jesu Christi, einen Sohn der Juden, die er kurz vorher als „Natterngezücht“ bezeichnet hatte, überging, wurde die Versammlung aufgrund der Notverordnung aufgelöst."
Die Ingelheimer Zeitung forderte wie schon ein Jahr zuvor in einem Kommentar eine "Finanzdiktatur" und traute dem Parteienstaat keine Lösung der Wirtschaftsprobleme mehr zu:
"16. Juli 1931 - Wie oft haben wir in diesem Blatte empfohlen, allem Streit um Steuern und um Geldausgaben durch eine Finanzdiktatur ein Ende zu machen. Fort mit den Parteien, mit den Interessenhaufen! Langsam gewann dieser Gedanke auch Obenraum [sic!]. Die Regierung Brüning regiert mit § 48 der Reichsverfassung, der vorsieht, daß die Regierung von sich aus Gesetze machen kann, wenn das Reich in Gefahr ist. Notverordnung um Notverordnung ist erlassen worden, und jetzt, da der wirtschaftliche Zusammenbruch droht, greift die Regierung wieder ein: Schließung der Banken, Verbot des Handels mit fremden Geldsorten, Stützung der Danat Bank, damit die Gläubiger zu ihrem Geld kommen. Und das ist gut so. Wenn man erst die Parteien oder die Parteiführer fragen wollte, wo käme man hin? Deshalb: In Notzeiten ist Diktatur das einzig Richtige. Wir haben sie längst gefordert. Nun haben wir sie wenigstens teilweise, und das ist gut so. Ggf. sollte sie auf das gesamte Finanzwesen (Steuereinnahmen und Verausgabungen) ausgedehnt werden."
Die Wahlkampfveranstaltungen gingen weiter:
"25. August 1931 - Ortsgruppe Ingelheim des Stahlhelm. Annähernd 100 Kameraden wurden während einer erhebenden Feier durch Handschlag verpflichtet. Redner war Staatsanwalt Dr. Wolf, Mainz."
"5. Oktober 1931 - Radikaldemokraten. Der Landesverband Hessen der Radikaldemokratischen Partei hielt in Offenbach seinen ersten Parteitag ab. Landesvorsitzender ist MdL Rektor Reiber aus Darmstadt. An zweiter Stelle der 22 Mann umfassenden Kandidatenliste steht nach Reiber Studienrat Balser aus Ober-Ingelheim."
"3. November 1931 - N.-I. Neue Sozialisten. Die neugegründete Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) stellte sich in einer Wahlversammlung für die Hessischen Landtagswahlen vor. Die SAP, die sich von der SPD abgespalten hat, kämpft gegen die Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien, wie es die SPD praktiziert, gegen die Parteibürokratie und das Abweichen vom Vorkriegskurs. - In einer Versammlung der Radikaldemokratischen Partei wurde darauf hingewiesen, daß das Großkapital die Schuld an der Krise hat. Zur Ablenkung von ihrem verderblichen Tun würden die Großkapitalisten sich nationalsozialistisch gebärden, um die Stimmung so aufzuheizen, daß es schließlich wieder zu einem Krieg führen muß, an dem das Großkapital (wie am letzten) wieder verdienen muß."
"4. November 1931 - O.-I. Zum Thema Sozialismus oder Nationalsozialismus sprach der hessische Staatspräsident D. Adelung (SPD), der sachlich sich mit Kommunismus und Nazi-Ideologie auseinander setzte. Etwa 600 Zuhörer waren gekommen."
"13. November 1931 - N.-I. Die Zentrumspartei stellte ihre Verdienste in der Krisenpolitik heraus. Der Vizepräsident des Reichstages, Thomas Esser, zeigte die Etappen des Bemühens Brünings um Normalisierung der Verhältnisse auf und erwähnte besonders das zähe Ringen um bessere Einsicht und Verständnis unseres größten Widersachers, des heutigen riesenhaft erstarkten Frankreichs."
"14. November 1931 - N.-I. In einer Wahlversammlung der KPD mit Referent Oehler, Frankfurt, richteten sich die Angriffe in erster Linie gegen die SPD und die SAP."
Als nächstes fanden am 15. November 1931 Wahlen zum hessischen Landtag statt; sie brachten in Ingelheim folgende Ergebnisse (8 von 12 Parteien in Auswahl):
(Chr.-soz. VD = Christlich-Sozialer Volksdienst)
Die Nationalsozialisten bekamen bei guter Wahlbeteiligung in den beiden Ingelheim schon 1931 erstmals die meisten Stimmen (773 bzw. 804) und wurden nur in Frei-Weinheim noch deutlich vom Zentrum und auch noch knapp von der SPD übertroffen.
Schon bald darauf, am 19. Juni 1932, fanden erneut Wahlen zum hessischen Landtag statt - siehe unten!
Zeitungsberichte:
"18. November 1931 - SS-Schutzstaffel. Die Schutzstaffel Ingelheim der NSDAP veranstaltet mit der Nationalsozialistischen Laienbühne Mainz einen Theaterabend. Aufgeführt wird das Stück "Blut". Die Bühne steht unter der Leitung des Parteigenossen (Pg.) Hans Fischer-Schlotthauer."
"14. Dezember 1931 - Die schwarze Bauernfahne in Rheinhessen. Von der sogenannten "Landbewegung" wurde in Uelversheim in Rheinhessen eine Bauernversammlung unter dem Vorsitz von Otto Stollmann, Uelversheim, durchgeführt, bei der der Hauptschriftleiter des "Rhein- und Hessenbauer", Glan, über das Thema "Schwarze Bauernfahnen über Deutschland" referierte. Das Ergebnis der Versammlung war ein Beschluß, in dem zur Einstellung sämtlicher Abgaben an das Reich, die Länder und Gemeinden aufgefordert wird. Licht- und Wasserrechnungen sollen nur zur Hälfte bezahlt werden. Verschiedene Rheinhessische Blätter haben sich mit diesen Beschlüssen beschäftigt und sie moralisch unterstützt. Es wird amtlich dazu mitgeteilt, daß sich die Drahtzieher solcher Versammlungen strafbar machen. Die Polizeibehörden werden solche Versammlungen zur Verhetzung der bäuerlichen Bevölkerung unterbinden."
Am 19. Dezember 1931 wurde gegen den scharf geäußerten Widerstand der NSDAP und der Kommunisten endlich ein neuer Ortsbürgermeister für Ober-Ingelheim gewählt: Dr. Georg Rückert aus dem Odenwald, erster Berufsbürgermeister in Ingelheim, der sich klar mit 11 Stimmen gegen drei Mitbewerber durchsetzte, von der SPD unter Wedekind und den Freisinnigen unter Jean Gemünden unterstützt.
Er war langjähriges SPD-Mitglied, zeitweise Mitarbeiter von Wilhelm Leuschner und Carlo Mierendorff (beide später aktive Mitglieder des Widerstandes gegen Hitler) und zum Zeitpunkt der Wahl in der Stadtverwaltung Darmstadt tätig.
Ende Januar 1932 fanden wüste Schlägereien (mit Verletzten) bei der Burgkirche zwischen Nazis und Reichsbannerleuten statt, in die die Polizei eingeschaltet werden musste.
Im März 1932 wurde in Ober-Ingelheim eine NS-Frauenschaft gegründet.
Immer mehr Bauern wendeten sich der NSDAP und ihren Versprechungen zu:
"19. Januar 1932 - N.-I. Bauernkundgebung. Unter dem Vorsitz des Führers der Freien Bauernschaft, Ortsgruppe Nieder-Ingelheim, Johann Bender, sprachen in der Turnhalle der zur NSDAP übergetretene ehemalige Landvolkvertreter, Reichstagsabgeordneter Sybel, und Redakteur Glahn vom Freien Hessenbauer. Anwesend waren auch der Ingelheimer Stahlhelmführer Bambach, der Bauernführer Stallmann, Uelversheim, sowie Mossel, Marienborn. Alle Redner erzielten vollen Beifall, und es ging wie ein Erwachen durch die Zuhörerschaft."
"8. März 1932 - O.-I. Frauenschaft gegründet. In der letzten Woche ist hier eine Nationalsozialistische Frauenschaft gegründet worden. Die Heimabende finden bei Wenzel am Markt statt."
"8. April 1932 - O.-I. In einer Versammlung der Freien Bauernschaft Ober-Ingelheim hielten Gutsbesitzer Stallmann, Uelversheim, Landwirt Weinz, Armsheim, und Landwirt Jäger, Ockenheim, Referate und forderten auf, bei der Reichspräsidentenwahl und allen zukünftigen Wahlen Hitler zu wählen."
Die Gegner der Nazis luden den Reichstagsabgeordneten Dr. Mierendorff zu einer Veranstaltung der Eisernen Front ein:
"18. Februar 1932 - O.-I. Werbung für "Eiserne Front". Die Kampfleitung der Eisernen Front hatte zu einem Abend mit dem bekannten Reichstagsabgeordneten Dr. Mierendorff eingeladen. Dieser rief dazu auf, daß sich die Arbeiterschaft zusammenschließen müsse und daß es gelte, dem Vernichtungswillen der Faschisten eine Abwehrfront gegenüberzustellen. Versammlungsleiter Studienrat Balser rief die Versammelten zum Eintritt in die Eiserne Front auf." (Chronik, S. 152)
Nach dem Verbot von SA und SS im April 1932 wurden auch in Ingelheim Wohnungen von der Polizei durchsucht, ohne dass über Ergebnisse etwas bekannt wurde.
Dass Adolf Hitler durch Nieder-Ingelheim fuhr, wurde auch in der Zeitung festgehalten:
"22. April 1932 - N.-I. Gestern ist Adolf Hitler durch unseren Ort gefahren. Ziel war Bad Kreuznach."
In Nieder-Ingelheim ging Bürgermeister Leonhard Muntermann (DDP) aus Gesundheitsgründen und verbittert über Verleumdungen in Pension (April 1932); er war seit 1912 im Amt. Nun (1932) sprach sich die Mehrheit des Nieder-Ingelheimer Gemeinderates ebenfalls für einen Berufsbürgermeister aus. Der Beigeordnete Prinz übernahm zunächst die Leitung der Gemeinde. Nachdem aber der Beigeordnete im Dezember 1932 verstarb, waren beide Positionen der Gemeindeleitung verwaist.
Die zwei Reichspräsidentenwahlen 1932 brachten in Ingelheim folgende Ergebnisse:
Die Wahlbeteiligung bei beiden Abstimmungen lag hoch: 81 bzw. 84%.
Hitler bekam in Ingelheim nur etwa 23% der Stimmen – am wenigsten in Frei-Weinheim – und viel weniger als im Reichsdurchschnitt, der bei 37% lag.
Nur sieben Monate nach der Novemberwahl vom 1931 sollten die Wähler am 19. Juni 1932 erneut einen hessischen Landtag wählen. Für diese Wahl hatten sich folgende liberale Parteien zu einer "Nationalen Einheitsliste" vereinigt:
- Dt. Volkspartei,
- Staatspartei,
- Wirtschaftspartei,
- Landbund,
- Aufwertungspartei,
- Christl.-soz. Volksdienst,
- Hess. Landvolk (in der Tabelle mit "NEL" abgekürzt).
(Parteien in Auswahl)
Ihre Ergebnisse brachten gegenüber der Novemberwahl
- für die SPD Stimmengewinne in OI, aber Verluste in NI und FW;
- für das Zentrum durchweg Verluste;
- für die NSDAP Verluste in OI und NI, aber leichte Gewinne in FW.
Die NSDAP konnte somit ihre führende Rolle in den beiden Ingelheim behaupten und in Frei-Weinheim ihre zweite Position hinter dem Zentrum ausbauen. Sie bekam in
- Ober-Ingelheim 703 von 1860 abgegebenen Stimmen = 37,8 %
- Nieder-Ingelheim 745 von 2524 abgegebenen Stimmen = 29,5 %
- Frei-Weinheim 97 von 371 abgegebenen Stimmen = 26,1 %
Einen Monat später standen auch neue Reichstagswahlen an.
Vor dieser Juli-Wahl fand in der Ober-Ingelheimer Turnhalle eine völlig überfüllte NS-Veranstaltung mit dem Kaisersohn Prinz August-Wilhelm von Preußen statt, gestört von Arbeiterjugend und Reichsbanner.
"18. Juli 1932 - Ingelheim. Demonstration der Republikaner. In einem Aufruf zu einer Demonstration heißt es: Gegen Nazi-Terror und Hitler-Barone demonstriert heute Abend die Bevölkerung von Ingelheim, welche noch einen Funken republikanischen Geist in sich trägt. Nachdem in den letzten Wochen in Deutschland der politische Mord an der Tagesordnung ist und die überfälle auf Mitglieder des Reichsbanners und der Eisernen Front sich häufen, rufen wir zum Protest auf und ersuchen die Republikaner, allen Anpöbelungen zum Trotz, mitzumarschieren. Der Zug geht durch Nieder- und Ober-Ingelheim, es finden Kundgebungen statt."
"27.Juli 1932 - N.-I. Zentrum im Wahlkampf. Eine Zentrumswahlveranstaltung fand mit Dr. Nahm und Dr. Hamacher statt. Dabei wurde die Zeit nach dem Sturz Brünings unter die Lupe genommen. Die Mißbilligung der beiden Redner über die gewaltsame Beiseiteschiebung der Sozialdemokratischen Partei, die doch eine staatsbeiahende Partei geworden, hat in der ganzen Versammlung eine starke Resonanz gefunden. Reichsrat Dr. Hamacher kennt die preußischen Minister Braun und Severing, die er lobte. Der Zentrumsblock will den Zusammenprall der radikalen Kräfte verhindern."
Diese Reichstagswahl am 31. Juli 1932 brachte - auch gegenüber der Landtagswahl im Juni - einen weiteren Anstieg der Nazi-Stimmen in Ingelheim (in Auswahl):
(Chr.-soz. VD = Christlich-sozialer Volksdienst)
Das bedeutet, dass die NSDAP 1932 in freien Wahlen für den Reichstag - wie schon zuvor bei den Landtagswahlen - in zwei der drei Ingelheimer Orte die relativ meisten Stimmen erhielt. Nur in Frei-Weinheim hielt sich das Zentrum besser.
Aber die Wahlkämpfe gingen weiter:
"12. August 1932 - N.-I. Viele hundert Menschen hatten sich zur Feier des Verfassungstages auf dem Marktplatz zusammengefunden. Ein Platzkonzert des ev. Bläserchors unter Kapellmeister Hünicke, die Festrede von dem gebürtigen Stadecker Rektor Degreif, Mainz, und die bengalische Beleuchtung des Marktplatzes sowie des Rathauses waren Höhepunkte. - In Ober-Ingelheim waren es weniger Besucher als in früheren Jahren. Die Festrede hielt hier Lehrer Gahr, Mainz. Die Ortsvereine trugen zur Ausgestaltung des Abends sehr fleißig bei."
"19. September1932 - Freie Bauern und NSDAP. Die Vertreter- und Generalversammlung der "Vereinigten freien rheinhessischen Bauernschaft" fand in Bingen statt. Dabei wurden die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf den Bauernstand ausführlich dargelegt und entsprechende Forderungen zur Besserstellung erhoben. Am Nachmittag fand eine große gemeinsame Bauernkundgebung der Vereinigten freien rheinhessischen Bauernschaft und der NSDAP, die seit Frühjahr 1932 durch Abkommen liiert sind, statt. Referent des Tages war Diplomlandwirt MdR Darre, der Reichsagrarfachberater der NSDAP."
"31. Oktober 1932 - N.-I. Wieder Wahlkampf. Beim Werbeabend der SA sprach der Kreisleiter von Bingen, Dr. Werner Best."
Die letzte freie Reichstagswahl vom 6.11.1932 nach der erneuten Auflösung des Reichstages, der seit 1930 keine regierungsfähige Mehrheit mehr finden konnte, hatte folgende Ergebnisse in Ingelheim:
Trotz eines Rückganges der Stimmen für die NSDAP in allen drei Orten bekam sie weiterhin die relativ meisten Stimmen in Ober- und Nieder-Ingelheim; in Frei-Weinheim wurden weiterhin die meisten Stimmen für das Zentrum abgegeben.
Zwei Tage vor der Wahl, am 4. November 1932, hatte Alfred Rosenberg, der Hauptschriftleiter des „Völkischen Beobachters“, vor 600 "begeisterten" Zuhörern bei einer Wahlkundgebung in Ober-Ingelheim gesprochen. Ingelheim schien den Nazis also besondere Wahlkampfanstrengungen wert zu sein.
"23. Januar 1933 - Ingelheim. Aufmarsch der Nationalsozialisten. Ohne Störung verlief der Aufmarsch von SS und SA in Ober- und Nieder-Ingelheim. Rund 1000 Personen waren anwesend. Es handelte sich um Angehörige der 3. Rheinhessischen Standarte Nr. 117, zu der auch die Stürme des Ingelheimer Grundes gehören. Die Kolonnen zogen durch sämtliche größeren Straßen. Anschließend fand eine Kundgebung statt, bei der Kreisleiter Dr. Werner Best über die Idee des Nationalsozialismus sprach."
Am 31. Januar wurde Hitler zum neuen Reichskanzler ernannt. Die letzte immerhin noch geheime, wenn auch von vielen Schikanen gestörte und durch Nazi-Propaganda stark beeinflusste Reichstagswahl fand am 5. März 1933 statt.
Ihre Ergebnisse folgen hier mit einem Vergleich zur Novemberwahl 1932 (aus: IZ, 6.3.1933 und Vey, Ingelheim unter dem Hakenkreuz, S. 57):
Ort/Parteien | RT 6.11.1932 | RT 5.3.1933 |
Ober-Ingelheim |
|
|
NSDAP | 710 | 940 |
SPD | 545 | 520 |
KPD | 223 | 224 |
Zentrum | 399 | 420 |
Kampffront | 111 | 142 |
Deutsche Volkspartei | 78 | 54 |
Christlich-sozialer Volksdienst | 37 | 32 |
Deutsche Staatspartei | 119 | 137 |
Deutsche Bauernpartei | - | 2 |
Ort/Parteien | RT 6.11.1932 | RT 5.3.1933 |
Nieder-Ingelheim |
|
|
NSDAP | 684 | 1119 |
SPD | 553 | 534 |
KPD | 305 | 299 |
Zentrum | 550 | 576 |
Kampffront | 128 | 166 |
Deutsche Volkspartei | 183 | 135 |
Christlich-sozialer Volksdienst | 27 | 24 |
Deutsche Staatspartei | 109 | 95 |
Ort/Parteien | RT 6.11.1932 | RT 5.3.1933 |
Frei-Weinheim |
|
|
NSDAP | 107 | 213 |
SPD | 91 | 92 |
KPD | 4 | 14 |
Zentrum | 274 | 280 |
Kampffront | 7 | 16 |
Deutsche Volkspartei | 20 | 7 |
Christlich-sozialer Volksdienst | 10 | 5 |
Deutsche Staatspartei | 5 | 1 |
Und die Ergebnisse in Großwinternheim, das sich erst 1972 mit Ingelheim zusammenschloss:
Ort/Parteien | RT 6.11.1932 | RT 5.3.1933 |
Großwinternheim |
|
|
NSDAP | 134 | 208 |
SPD | 88 | 95 |
KPD | 10 | 7 |
Zentrum | 87 | 111 |
Kampffront | 9 | 17 |
Deutsche Volkspartei | 6 | 2 |
Christlich-sozialer Volksdienst | 6 | 5 |
Deutsche Staatspartei | 5 | 2 |
Daraus lassen sich folgende Prozente für die NSDAP, bezogen auf die Zahl der abgegebenen gültigen Stimmen, errechnen:
Ort | RT 6.11.1932 | RT 5.3.1933 |
Ober-Ingelheim | 710 | 940 |
Nieder-Ingelheim | 684 | 1119 |
Frei-Weinheim | 107 | 213 |
Groß-Winternheim | 134 | 208 |
Das bedeutet: In allen drei Ortsteilen des 1939 vereinigten Ingelheim und in Großwinternheim ist die Anzahl der NSDAP- Stimmen von der zweiten Reichstagswahl 1932 bis zur Wahl am 5.3.1933 erheblich angewachsen, vor allem aus der Gruppe der vorherigen Nichtwähler, da die Wahlbeteiligung ebenfalls sehr stark angestiegen war (auf 85%).
Bei einem Vergleich der Orte untereinander sowie mit Reich und Rheinhessen fällt auf, dass die beiden Ingelheim mit ungefähr 38% deutlich unter dem NSDAP-Ergebnis im Reich (43,9%) oder Rheinhessen (42,96%) lagen und dass die Nazis im überwiegend katholischen Frei-Weinheim sogar nur 33,9% erhielten und immer noch nur an zweiter Stelle hinter den Stimmen für das Zentrum mit 44,5% standen.
Stärker gewählt wurden die Nationalsozialisten allerdings im ländlichen Großwinternheim, wo sie mit 46,53% den höchsten Anteil aller heutigen Ingelheimer Stadtteile ereichten und damit über dem Reichsdurchschnitt lagen.
Ingelheim war also zwar auch vom allgemeinen Zeitgeist in Deutschland erfasst, aber eine Hochburg des Nationalsozialismus kann man es nicht nennen.
Gs, erstmals: 09.10.07; Stand: 06.02.20