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Weistums-Teile für das Ingelheimer Reich


Autor: Hartmut Geißler
aus: Loersch, S. 505/6 (= Beilage Nr. 24)
und mit Beratung durch Erich Hinkel


"Weistümer" sind ländliche Rechtsquellen, die die gültige öffentliche Ordnung, sozusagen die Verfassung für ein Dorf oder hier für das Ingelheimer "Reich" enthalten. Sie wurden als "Weisung" durch rechtskundige Personen, z.B. Schultheißen, auf eigens dazu durchgeführten Versammlungen verkündet, hier beim ungebotenen Ding in Nieder-Ingelheim.

Für Ingelheim ist eine solche Weisung bzw. einige wenige Teile von einem Gesamtweistum, die wahrscheinlich für das Ingelheimer "Reich" besonders wichtig waren, aber leider undatiert überliefert sind, von Hugo Loersch als Beilage Nr. 24 in seinem Buch über den Ingelheim Oberhof von 1885 veröffentlicht worden. Sie waren in einer Handschrift enthalten, die die verschiedenen Eidesformeln im Ingelheimer Reich enthielt, und wurden von Susenbeth im 17. Jahrhundert abgeschrieben. Man kann also nicht genau sagen, für welchen Zeitraum die hierin gesammelten Regeln galten.

Das gesamte Weistum für das Ingelheimer Reich muss mit Sicherheit viele weitere Detailregelungen enthalten haben, die nicht überliefert sind. Diese Annahme ergibt sich aus dem Vergleich mit anderen, vollständig erhaltenen Weistümern, z. B. mit dem Dorf-Weistum von Bodenheim aus dem Jahre 1536, das ausgedruckt acht A4-Seiten umfasst.

Zur Dorfordnung von Frei-Weinheim von ca. 1600 mit XXXVII Absätzen

Die Nummerierung der Absätze hat Loersch für den Druck hinzugefügt.

„Ongeboden dink
Dis zeigt man dem rich an zu ungeboten dinge.

1. Das im entpheret ist zum ersten das gut zu Welgesheim, darnach den hof zu Jugenheim und das gut, das darzu gehoert, darnach die holzmark ander sit Rins in der hohe.

2. Auch ruget man, das niemant uf dem walde weiden sall wan die zwei Ingelheim, und ist auch der selbige walt gewüstet, gehauwen, gerodt und geweidet wieder recht.

3. ltem uf dem selben wald mag ieder scheffen alle jar zwei fuder holzes hauwen. Auch sall man den scheffen alle jar ein imbs | geben in den negsten vierzehen dagen nach sant Martins dage. Auch enmagk niemants keinen scheffen gekemphen noch kempflich geheissen. Auch enmak niemants keinen scheffen beclagen oder im gebieten.

4. Auch sall niemants hinder dem rich sitzen oder wonen, der eim andern heren dien oder zu dinst sitz, wan dem rich allein, von sinem libe.

5. Auch sint iedes jars dri ungeboten dinge, und ist der eins des negsten mondags nach sant Martins dag, das ander des negsten mondags nach der osterwochen und das drit des negsten mondags nach sant Johans dag Baptisten in dem somer. Und wer in dem rich wonet und gesessen ist, der sall zu den drien ungeboten dingen sin und des richs ru horen und auch da rugen was ruper ist dem rich; und wer nit do wer, der verloer zwenzick Menzer phenig.

6. Auch wer in dem rich gesessen ist, jar und dag da inen gewonet hat on nachvolgenden heren oder faut, den sall das rich verantworten als ander des richs lute. Und mag ein icklicher, der in dem rich gesessen ist, ziehen und farn war er will und wan er will, und sall in niemant daran kruden oder hindern, dan dunket iemants, das er im schuldig si, der mag im zusprechen mit geriecht und von im nemen nach ansprach und antwort also der scheffen wiset, das recht si.“

Übertragungsversuch (Gs):

„Ungebotenes Ding.
Dies verkündet man dem Reich
[bzw. seinen Einwohnern] beim ungebotenen Ding.

1. Dass von ihm [dem Reich] entfernt ist
- erstens das Gut zu Welgesheim,
- sodann der Hof zu Jugenheim und das Gut, das dazu gehört,
- sodann der Gemeindewald auf der anderen Rheinseite auf der Höhe.

2. Auch verkündet man, dass niemand im [Ingelheimer] Wald [sein Vieh] weiden soll außer den [Einwohnern der] beiden Ingelheim, und es ist auch dieser Wald rechtswidrig gewüstet, gehauen, gerodet und als Weide benutzt worden.

3. Ebenso darf jeder Schöffe in demselben Wald jährlich zwei Fuder Holz schlagen. Auch soll man den Schöffen jährlich ein Essen geben innerhalb von 14 Tagen nach St. Martin. Auch soll niemand mit einem Schöffen kämpfen oder ihn zum [Zwei-] Kampf herausfordern. Auch soll niemand einen Schöffen anklagen oder ihn [vor Gericht] vorladen.

4. Auch soll niemand im [Ingelheimer] Reich ansässig sein oder wohnen, der einem anderen Herrn dient oder zum Dienst ansässig ist, außer dem Reich allein, mit seinem Leib [d.h. als Leibeigener]. 

5. Auch sollen jährlich drei ungebotene Dinge stattfinden, und zwar erstens am folgenden Montag nach St. Martin, zweitens am folgenden Montag nach der Osterwoche und drittens am folgenden Montag nach Johannes dem Täufer im Sommer. Und wer im Reich wohnt und ansässig ist, der soll an den drei ungebotenen Dingen teilnehmen und die Verlautbarungen des Reiches anhören und auch das vorbringen, was ruchbar [?] ist für das Reich; und wenn jemand nicht da sei, der verlöre zwanzig Mainzer Pfennig. 

6. Auch wer in dem Reich ansässig ist, Jahr und Tag darin gewohnt hat ohne ihn beanspruchenden Herrn oder Vogt, den soll das Reich verteidigen wie andere Reichsleute. Und es darf jedermann, der im Reich ansässig gewesen ist, wegziehen und wegfahren, wohin er will und wann er will, und es soll ihn niemand daran hindern, es sei denn, jemand meint, dass dieser ihm etwas schuldig sei, der soll ihn vor Gericht anklagen und von ihm erhalten nach Rede und Gegenrede, wie es die Schöffen als rechtmäßig entscheiden.“


Erläuterung und Kommentierung:

"Rugen" ("rügen") bedeutete im Mittelalter und der frühen Neuzeit wohl zuerst einmal die öffentliche Verkündung eines Rechtszustandes, also von Regeln des Zusammenlebens. Da so etwas aber dann gemacht wird, wenn an sich selbstverständliche Regeln immer wieder übertreten werden, bekam "rügen" als weitere Bedeutung das Anzeigen von Übertretungen dieser Regeln. In diesem Weistum wird das Wort in beiden Bedeutungen verwendet.

Absatz 1 zählt die nicht zur Verwaltung des Ingelheimer Reichs gehörigen Fiskalgüter auf, darunter auch einen rechtsrheinischen Wald auf der Rheingauhöhe.

Absatz 2 regelt die Nutzung des Ingelheimer Waldes (oberhalb von Bingen), der offenbar in die Verwaltung der beiden Ingelheim fiel (und noch fällt) und der nur von Gemeindemitgliedern der beiden Ingelheim (d.h. Nieder- und Ober-Ingelheim) genutzt werden dürfe, aber offenbar "widerrechtlich" von anderen genutzt worden ist.

Im Absatz 3 werden Schöffenrechte und die Schöffenimmunität geregelt: Holzeinschlag aus dem Ingelheimer Wald, ein Martinsessen und Schutzrechte. Diese Schutzrechte stellen für die Schöffen einerseits eine strafrechtliche Immunität fest (nicht "beclagen") und andererseits eine zivilrechtliche Immunität, durch die verhindert werden soll, dass Schöffen durch die Veröffentlichung privater Ansprüche gegen sie in ihrer Tätigkeit beeinträchtigt werden ("gebieten").

Absatz 4 hält fest, dass im Ingelheimer Reich keine Leibeigenen anderer Herren ansässig sein dürfen.

Absatz 5 stellt die Regeln für das Ingelheimer ungebotene Ding zusammen:
- jährlich drei Termine im Herbst, im Frühling und im Sommer
- Teilnahmepflicht und Rügerecht
- Geldbuße bei Fernbleiben

Im Absatz 6 wird denjenigen Ingelheimer Bürgerrecht zugesichert, die als Zugezogene innerhalb eines Jahres nicht von anderen Herren beansprucht werden. Außerdem wird den Ingelheimern völlige Freizügigkeit zugesichert, sofern sie ihre Schulden begleichen haben, nötigenfalls durch Gerichtsurteil.


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Gs, erstmals: 08.12.11; Stand: 18.12.20